Es fehlten nur noch die Whiskeyflasche auf dem Tisch und ein paar Gläser, dann wäre die traute Pokerrunde komplett. Aber vielleicht war Dirk ja auf dem Weg gewesen, um Alkohol zu besorgen. Was, zum Teufel, ging hier vor? Kims blasses und völlig ausdrucksloses Gesicht ließ mich frösteln.
Der Agent ließ die Hand sinken, in der er sein Blatt hielt. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er war ein noch sehr junger Mann, vielleicht zwei, drei Jahre jünger als ich. Aber ich zweifelte nicht daran, dass er über genügend Professionalität verfügte, um es mit einem ungebetenen Eindringling problemlos aufnehmen zu können. Zu seinem Pech war er in einer denkbar ungünstigen Situation und ich mittlerweile so geladen, dass meine Skrupel, das kalte Stück Metall in meiner Hand einzusetzen, mit jeder Sekunde geringer wurden.
»Denk noch nicht einmal daran«, sagte ich. Ich wunderte mich, dass meine Stimme so gelassen klang. »Leg die Hände vor dir auf den Tisch und verhalt dich mucksmäuschenstill.«
Er brauchte drei oder vier Sekunden, bis er begriff, dass er keine Chance hatte. Dann blinzelte er und tat, wie ich ihm geheißen hatte.
»Komm her, Kim«, sagte ich. »Es wird Zeit, dass wir gehen.«
Sie starrte mich wortlos an und rührte sich nicht.
Als Teenager hatte ich eine Zeit lang das Füttern der Guppys übernommen, die wir als Kinder in unserem winzigen Aquarium für den Inbegriff exotischer Tierwelt gehalten hatten. Irgendetwas war schief gegangen. Eines Morgens, als ich gerade wieder eine Prise Fischfutter in das trübe Wasser hatte streuen wollen, trieben alle sieben Guppys an der Oberfläche. Der Blick ihrer Augen war genauso leer und ohne Spur von Leben gewesen wie jetzt der von Kim.
»Ich hab gesagt, du sollst herkommen«, sagte ich heftig.
Wie fühlt sich ein Kaninchen, wenn es von einem Jagdhund aufgestöbert wird? Wie ein Wolf, der in die Flinte eines Jägers schaut? Vielleicht fühlen sie gar nichts, vielleicht Panik, die ihre Herzen zu schnellen Schlägen antreibt und sauerstoffreiches Blut durch ihre Körper pumpt. Vielleicht fühlen sie eine erbarmungslose Leere in sich, nicht wissend, ob sie ihr Heil im Angriff oder in der Verteidigung suchen sollten. Wenn es so war, dann fühlten sie das Gleiche wie ich in diesem Moment, in dem Kim meine Worte vollkommen teilnahmslos hinnahm wie ein gepanzerter Wagen einen schweren Gewitterregen.
Hinter mir krachte etwas und dann stolperte Dirk hinein, merkwürdig schwer atmend, als hätte er gerade eine große körperliche Leistung vollbracht. Marcel war dicht hinter ihm und trieb ihn mit dem Gewehr an, das noch vor einer Stunde der nun tote Elitesoldat ein Stockwerk tiefer in den Händen gehalten hatte.
»Na wunderbar«, sagte Marcel, als er die Situation mit einem Blick erfasste. »Jetzt haben wir zumindest ihre Freundin wieder gefunden.«
Ich erinnerte mich daran, dass er Kim nur von einem flüchtigen Blick aus Zimmer 422 im Hotel TEXAS kennen konnte. Er musste ein erstaunlich gutes Gedächtnis haben - oder er hatte nur zwei und zwei zusammengezählt.
»Du da hinten«, kommandierte Marcel, ohne mich weiter zu beachten, »steh auf und stell dich neben deinen Kumpel.«
Wie durch einen Nebel nahm ich wahr, dass Marcel den jungen Agenten entwaffnete und anschließend seine beiden Gefangenen zwang, sich an die rückwärtige Wand zu stellen. Es sah aus wie eine Hinrichtungsszene in einem der Al-Capone-Streifen, die bis in die fünfziger Jahre hinein so erfolgreich gewesen waren, mittlerweile aber von Streifen wie Hitchcocks Psycho oder Agentenfilmen wie Lemmy Caution verdrängt worden waren. Ich fühlte mich wie betäubt und doch gleichermaßen merkwürdig klar und wach. Es war eine der wenigen Situationen im Leben, in denen man sich fragte, ob man träumte oder wach war. Es war alles so unwirklich, Marcels Kopfnicken in Kimberleys Richtung, sein gemurmeltes Kommen Sie, meine Liebe, der merkwürdige Blick, den mir Kim zuwarf, als sie aufstand - ein fixiertes Starren der Pupillen, das kaum etwas Menschliches hatte.
»Nun kommen Sie schon, John«, riss mich Marcels Stimme schließlich aus meiner Erstarrung. »Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden.«
Ich nickte und folgte Marcel und Kim mit ein paar schnellen Schritten in den Gang. Ray stand immer noch da wie zuvor, ein blasses, zerstörtes Ebenbild seiner selbst. Gestern Abend war er noch vollkommen anders gewesen, kraftvoll und streitsüchtig wie immer, und es hatte kein Anzeichen gegeben, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Ich hatte noch nie eine so radikale Änderung an ihm erlebt.
Marcel ließ hinter uns die Tür ins Schloss fallen und drehte einen Schlüssel um. »So, das hätten wir«, grinste er, aber es war keine Freude in seinem Blick. »Das wird sie zumindest eine Zeit lang aufhalten.«
In diesem Moment wurde mir wieder dieser seltsame Geruch bewusst, der den ganzen unterirdischen Komplex zu durchtränken schien. Erinnerte er nicht entfernt an Bittermandeln? Gab es nicht irgendein Gift, das diesen Geruch verströmte?
»He, John, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Marcel besorgt.
»Wie?« Ich versuchte die Lähmung abzuschütteln, die mich in den letzten Minuten ergriffen hatte - was mir aber nur teilweise gelang.
»Wir können nicht einfach hier herumstehen«, sagte Marcel besorgt. »Obwohl ich nicht mehr weiß, ob es wirklich nur Steel ist, der unser Problem ist. Hier stimmt etwas nicht.« Er deutete mit der Hand den Gang hinunter. »Kein Mensch zu sehen. Die Alarmsirenen sind losgegangen, Steel hat eine Blutspur durch das Gebäude gelegt, aber keiner scheint sich darum zu kümmern.«
»Riechen Sie das auch?«, fragte ich, ohne auf ihn einzugehen. Als Marcel die Stirn runzelte, fuhr ich schnell fort: »Dieser Marzipan- oder Rosenduft. Oder bittere Mandeln...«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was sie meinen«, sagte Marcel langsam.
Ich hob hilflos die Schultern. »Es ist mir schon unten aufgefallen, aber ich dachte, dieser... dieser Gestank stammte aus den zerbrochenen Flaschen. Aber das stimmt nicht. Hier riecht es genauso.«
»Tut mir Leid«, sagte Marcel kühl. »Ich rieche nichts. Aber das hat nichts zu sagen. Mein Geruchssinn hat in den letzten Jahren gelitten.«
»Ich rieche es auch«, sagte Kim. »Die ganze Zeit schon. Was ist es?«
Ihre Unterstützung kam vollkommen unerwartet für mich. Ich drehte mich zu ihr um und musterte sie fragend. »Wie geht es dir?«, fragte ich in der Hoffnung, der Bann zwischen uns sei gebrochen.
»Danke der Nachfrage«, sagte sie spitz. »Miserabel, um ehrlich zu sein. Aber du siehst auch nicht gerade wie das blühende Leben aus.«
Einen Moment lang verfingen sich unsere Blicke und dann fingen wir beide an zu lachen. Der Lachreiz in mir überschüttete jedes andere Gefühl. Es war eine gewaltige, fast elektrisierende Erleichterung, wie der Durchbruch der Sonne durch eine dicke Wolkenschicht; ein Gefühl der Wiedergeburt. Ich hatte Kim schon fast verloren geglaubt, verloren an die Kreatur, die vielleicht immer noch in ihr wütete und danach trachtete, sie vollkommen in die Gewalt zu bekommen. Ich lachte so laut und heftig, dass mir schon nach wenigen Sekunden die Seiten wehtaten. Aber dann verebbte das Lachen und in das Gefühl der Erleichterung kroch erneut der Zweifel - der Zweifel daran, dass es überhaupt noch eine reelle Chance für uns gab.
»Ach, John«, sagte Kim, die gleich mir wieder ernst geworden war. »Was sollen wir bloß tun?«
Die Frage erübrigte sich. Denn im gleichen Augenblick begannen die Alarmsirenen loszuwimmern. Und irgendetwas krachte gegen die Tür, die Marcel gerade abgeschlossen hatte, mit grausamer Wucht und so ungestüm, dass sie in den Grundfesten erbebte. Die Geräusche vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, das jeden bewussten Gedanken mit sich riss. Die Tür splitterte und bevor ich begriff, was überhaupt vor sich ging, sprang sie aus den Angeln und uns geradezu entgegen, wie ein eigenständiges Wesen, wie der verzauberte Besen aus dem Zauberlehrling, der sich nicht mehr bremsen ließ in seiner unnatürlichen Lebendigkeit. Die Tür drehte sich einmal um ihre Achse und stürzte dann krachend zu Boden. In der Wolke aus Staub und Splittern, die sie aufgewirbelt hatte, erkannte ich zwei Gestalten, die mit gezogenen Waffen in der Tür standen.