Ich hatte entsetzliche Angst. Nicht wegen der Gefahr, in der wir zweifelsohne schwebten. Sondern davor, dass ich Kim wieder verlieren könnte, so kurz nachdem ich sie wieder gefunden hatte. Das konnte und wollte ich nicht zulassen.
Aber es war nicht Marcel und auch nicht ich, der schnell genug reagierte. Es war ausgerechnet Ray, der verstörte und völlig ausgebrannt wirkende Ray, der noch nicht einmal eine Waffe in der Hand hielt. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit drehte er sich einmal um seine eigene Achse, zog die Pistole aus seinem Hosenbund, entsicherte sie und schoss fast im gleichen Moment.
Er traf Dirk mitten ins Gesicht. Es war fürchterlich. Der Schuss hallte schmerzhaft in meinen Ohren wider und mischte sich mit Dirks Schrei, ein Schrei des Entsetzens, der sich in nichts von dem unterscheiden mochte, was ein zu Tode getroffener Seeadler ausstoßen würde. Das hagere, ungleichmäßige Gesicht des Majestic-Agenten wurde regelrecht zerschmettert; eine rote Wolke spritzte weg und traf den Kaugummi kauenden Jungen, der zum Zeitpunkt des Treffers direkt an Dirks Seite war.
Ray handelte, als stände er auf einem Schießstand und als ginge es lediglich darum, den schwarzen Punkt inmitten der Zielscheibe zu treffen. Ein zweiter Schuss löste sich aus seiner Waffe zeitgleich mit einem Schuss, den der zweite Agent abgab. Vor vielen Jahren hatte Ray einmal mit einem Kleinkalibergewehr Kaninchen gejagt, aber als er mit einem von ihm erlegten Kaninchen nach Hause gekommen war, hatte er von unserem Dad eine gehörige Tracht Prügel bekommen. Mich hatte beides sehr beeindruckt, zumal ich nie auf die Idee gekommen wäre, ohne Not ein wehrloses Tier zu erschießen. Aber ich hatte weder gewusst, welch guter Schütze Ray war, noch, wie wenig ihm ein Menschenleben bedeutete.
Der Agent hatte keine Chance. Wenn sein Gesicht eine Zielscheibe gewesen wäre, hätte Ray ungefähr dort getroffen, wo eine Drei einen durchaus akzeptablen Treffer markiert hätte: Die Kugel zerschmetterte seinen linken Wangenknochen und trat irgendwo hinterm Ohr wieder aus, um als Querschläger in die Decke zu sausen. Der Schuss des Jungen ging dagegen ins Leere, traf hinter uns die Wand.
Ich weiß nicht, was mir in diesem Moment an Gedanken durch den Kopf schoss. Es war das grauenhafte Gefühl, etwas beizuwohnen, was vollkommen außer Kontrolle geraten war.
»Bist du wahnsinnig?«, schrie ich Ray an.
Er drehte sich zu mir um und steckte die Pistole wieder ein. »Wieso?«, fragte er knapp. »Sie oder wir.«
Ich sah, wie sich Marcel auf die Lippen biss. In seinem Gesicht arbeitete es. »Das war nicht nötig«, sagte er schließlich und, wie ich fand, in maßloser Untertreibung. Als Ray etwas erwidern wollte, hob er nur die Hände. »Keine Diskussionen jetzt. Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen.«
Genau das traf die Sache auf den Punkt. Denn auf der gegenüberliegenden Seite, dort, wo sich die Nottreppe wie ein stämmiger, massiver Baumstamm durch das Gebäude zog, bewegte sich etwas, rief jemand und dann ging alles im erneuten Schrillen der Alarmsirene unter. Ich packte Kim bei den Schultern und stieß sie vor mir her. Wir hetzten den Gang hinab, keine Sekunde zu früh. Schwere Schritte waren plötzlich hinter uns und jemand schrie: »Bleibt stehen oder ich knalle euch ab!«
Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Steel hatte mindestens vier Menschen auf dem Gewissen, Ray jetzt zwei. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es in Majestic schon jemals zuvor ein solches Blutbad gegeben hätte. Sie würden sich nicht die Mühe machen zu differenzieren, wer geschossen hatte. Für sie mussten wir ein Haufen Verrückte sein und das Einzige, was sie daran hindern konnte, sofort das Feuer zu eröffnen, war wohl der Befehl Bachs, uns nach Möglichkeit lebend zu schnappen.
Ich beschleunigte meine Schritte. Ray, Marcel, Kim und ich rannten, stolperten auf den Mittelgang zu, der uns für einen Moment aus dem Sichtfeld unserer Verfolger bringen würde. Die einzige Chance, die wir hatten, waren die Aufzüge. Und das auch nur dann, wenn ein Aufzug auf uns wartete; wenn die beiden Kabinen auf irgendeinem anderen Stockwerk standen oder unterwegs waren, hingen wir fest. Ich hoffte nur, dass Ray dann nicht anfing durchzudrehen. Nach meinem Geschmack hatte es schon zu viel Tote gegeben.
»Verdammte Scheiße«, schrie jemand hinter uns. »Sie haben Dirk und Clark abgeknallt!«
Nicht sehr professionell, streifte mich ein Gedanke. Es passte nicht zu den Majestic-Agenten, wie wild gewordene Hilfssheriffs rumzubrüllen. Der Gedanke störte mich, aber dann ging er unter in den sich überstürzenden Ereignissen. Schüsse donnerten durch die Gänge und Kugeln bohrten sich in die Wände um uns.
»Bleibt stehen, verdammt noch mal!«, schrie eine sich überschlagende Stimme. »Ihr gottverdammten Bastarde!«
Wir hatten die Abzweigung erreicht und ich schubste Kim nach rechts, weg aus der Schusslinie unserer Verfolger. Die Notbeleuchtung flackerte und warf tanzende Schatten auf die Wände, aber ich achtete nicht darauf, sondern rannte so schnell ich konnte neben Kim auf die Nische zu, die der Eingang zum Aufzugschacht und damit unser Tor zur Freiheit war. Ray und Marcel taten es mir gleich, aber auch wenn sie uns nicht gefolgt wären: In diesem einen Moment war es mir ganz egal, ging es mir nur um Kim und mich selber.
Wir hatten Glück. Eine der Kabinen stand offen und das im Licht der Aufzugskabine matt schimmernde Metall ihrer Wände schien uns geradezu einzuladen. Marcel und ich waren auf gleicher Höhe, als wir die Kabine erreichten, und prallten hart gegeneinander. Kim und Ray stolperten in uns hinein und einen grotesken Augenblick fürchtete ich, wir würden uns so ineinander verkeilen, dass keiner von uns in den Aufzug kam. Aber dann stopfte ich Kim an den anderen vorbei in die Kabine, schob Ray nach und sprang nach einer einladenden Handbewegung Marcels ebenfalls in den Aufzug.
Ein Schuss jagte hinter uns her und ein Stück Metall splitterte neben Marcel von der Türverkleidung ab. Die Verfolger waren heran und würden uns erwischen, wenn wir nicht machten, dass wir von hier wegkamen. Ich packte Marcel am Revers seines Jacketts und zog ihn zu uns herein. Dann war er endlich in der Kabine und ich drückte mit zitternden Fingern die Taste für das oberste Stockwerk, den Ausgang, unseren Weg in die Freiheit, sofern es einen solchen überhaupt gab. Steel war mir im Moment herzlich egal, auch das, was hier in Majestic vor sich ging. Ich wollte nur weg, irgendwohin, wo wir zur Ruhe kommen konnten, um diesen ganzen Irrsinn zu vergessen.
Dabei fing er in diesem Moment erst richtig an. Kaum hatte ich den Knopf gedrückt, setzte sich der Aufzug zitternd und ruckend in Bewegung. Aber nicht aufwärts, sondern abwärts! Die Kabine sackte ein, zwei Fuß durch, fing sich dann wieder, zitternd und schwankend wie ein Mastkorb auf einem Segelschiff bei hoher See. Kim schrie kurz auf, ein spitzer, gequälter Schrei, der mir durch und durch ging.
Dann ging das Licht aus. Ehe ich begriff, was vor sich ging, war es plötzlich vollkommen finster um uns herum. Diesmal war es nicht nur ein kurzer Moment, nicht nur eine Ahnung davon, was das absolute Fehlen von Licht bedeuten konnte. Diese anhaltende und totale Finsternis war viel schwärzer, als ich sie mir je hätte vorstellen können. Ich hatte nie an Klaustrophobie gelitten, aber jetzt plötzlich verstand ich die Menschen, die in Eisenbahntunneln oder dunklen Kellern in Panik gerieten. Mit weit aufgerissenen, aber blinden Augen tastete ich mich an Kim heran, fand einen Arm und dann schließlich ihre Schultern. Das ist das Ende, schoss es mir durch den Kopf, als ich mich an sie drückte. Wie in diesem Film mit Robert Mitchum, der seiner Geliebten im Sterben nur nah sein konnte, weil er, als sie bereits tödlich von Pistolenschüssen durchsiebt war, ihre Hand zu erreichen versuchte. Ich weiß nicht, warum sich diese Filmszene, die ich in einem kleinen Vorstadtkino während eines Urlaubs im mittleren Westen gesehen hatte, nun breitwandfüllend vor mein inneres Auge drängte. Als ich den Film gesehen hatte, hatte er mich nicht sonderlich berührt.