»Ja, natürlich«, sagte Marcel und setzte sich in Bewegung. »Kommt.«
Sein Feuerzeug zeigte uns den Weg, in Richtung des schwachen Lichtscheins, der uns anlockte wie die alte Petroleumlampe auf der Veranda meiner Eltern die lästigen Mückenschwärme, die uns regelmäßig im Spätsommer heimgesucht hatten. Dunkelheit, vollkommene Finsternis war etwas Schreckliches und doch wusste ich nicht, ob es gut war, es dem Insekteninstinkt gleich zu tun und keine andere Möglichkeit zuzulassen, als sich nur auf die Quelle größter Helligkeit zuzubewegen. Irgendetwas in mir warnte mich, mich hier länger aufzuhalten, als unbedingt nötig war. Aber die Erinnerung an die allumfassende Dunkelheit in diesem gottverdammten Aufzug war noch zu frisch und schmerzlich, als dass ich daran lange denken wollte.
Wir kamen viel zu langsam voran, so unsicher und zögerlich waren unsere Schritte in diesem Betongang, der nur von der unruhigen Feuerzeugflamme erhellt wurde und damit plötzlich von einem nüchtern geplanten Korridor zu einer Höhle mutierte, wie sie unseren Vorfahren im fernen Europa vor einigen zehntausend Jahren bewohnt haben mochten. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich bei mir - und vielleicht auch bei den anderen. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, aber genau die hatte ich nicht. Die flüchtigen Blicke, die ich Kim zuwarf, verstörten mich mehr, als ich wahrhaben wollte. Sie schien mir gleichzeitig so nah und so fern zu sein, eher wie eine Vision in einem verrückten Traum als ein Mensch aus Fleisch und Blut, der sich gleich mir verzweifelt gegen sein Schicksal stemmte. Was, zum Teufel, qualifizierte mich dafür, ihr zu helfen und uns alle aus dieser verrückten Lage zu befreien?
Wir kamen schließlich an eine Kreuzung, die sich allerdings wesentlich von der auf den anderen Stockwerken unterschied. Der kreuzende Gang war ungewöhnlich breit und die Wände verschluckten das Licht, so schwarz und dunkel waren sie. Immerhin gab es hier eine reguläre Beleuchtung und Marcel konnte sein Feuerzeug ausknipsen. Es musste mittlerweile extrem heiß geworden sein, aber es passte zu Marcel, dass er darüber kein Wort verlor, sondern es schweigend in seiner Jacketttasche verschwinden ließ.
»Das sieht mir nicht nach einer Notbeleuchtung aus«, sagte ich und deutete auf die altmodischen Glühbirnen, die nackt und ungeschützt in ihren Fassungen steckten. Einige Glühbirnen mussten bereits durchgebrannt sein, denn in der ansonsten regelmäßigen Lichterkette gab es einige Aussetzer.
»Ein eigener Stromkreis?«, sinnierte Marcel. Seine Stimme hallte dumpf und dunkel von den Wänden wider. »Das ist alles sehr merkwürdig. Nach dem Zustand der Aufzugsverkleidung auf diesem Stockwerk zu schließen und nach dem Aufbau dieser Beleuchtungskette würde ich darauf tippen, dass das Ganze in den zwanziger Jahren gebaut worden ist. Aber damals war Majestic noch nicht einmal angedacht.«
Majestic vielleicht nicht, dachte ich, aber die Grauen können auch schon vorher aufgetaucht sein. Ein ungeheurer Verdacht begann in mir Gestalt anzunehmen. Was war, wenn Majestic gar nicht zufällig hier gebaut worden war? Was war, wenn sich etwas darunter verbarg, was von Anfang an gedacht war, die Kontrolle über Majestic zu übernehmen? Aber etwas störte mich an diesem Gedanken, und das lag nicht nur daran, dass er so abenteuerlich war. »Ich habe auch nicht das Gefühl, dass das hier ein Teil von Bachs Majestic ist«, sagte ich laut.
»Was für ein Blödsinn«, fuhr mir Ray über den Mund. »Wir haben Besseres zu tun, als hier Historiker zu spielen. Wie kommen wir raus? Wo befindet sich eine Treppe? Das sind doch die Fragen, die wir uns stellen müssen, sonst nichts.«
Wie immer steckte in dem, was er sagte, eine Menge Wahrheit. Aber leider war sein Tonfall wieder einmal vollkommen deplatziert. Immerhin hatte er wieder zu sich selbst gefunden, wenn er auch noch nicht ganz der Alte war, dazu wirkte er zu erschöpft, blass und immer noch neben sich stehend, so als sei er gar nicht er selbst. Kurz blitzte in mir ein Erinnerungsfetzen auf, der fürchterliche Moment, in dem er die beiden Majestic-Agenten erschossen hatte, dann rutschte die Erinnerung in den Hintergrund und meine Verwirrung ergriff die Oberhand. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinander zu setzen. Ich spürte förmlich die Gefahr, in der wir schwebten, sie war fast körperlich greifbar. Es war so, als spürte nun nicht Kim, sondern ich die Anwesenheit von etwas monströs Fremdem, als könnte ich die Nähe eines oder mehrerer Hive so wahrnehmen, wie sie es schon mehrmals geschafft hatte.
Und es schien nicht nur mir allein so zu gehen. Denn Marcel hob plötzlich die Stimme, rau und mit unerwarteter Schärfe, und mich überlief eine Gänsehaut: »Ich glaube, da kommt etwas.« Er deutete mit dem Lauf seines Gewehrs in den dunklen Schlund des Gangs hinein und fast sah es aus, als würde er sich an seiner Waffe festhalten wollen. Er ging ein paar Schritte in den Gang hinein, ein dunkler, kleiner Schatten von Mann, der zu allem entschlossen war, aber nun gleich mir zu ahnen schien, dass sich eine unwiederbringliche Entscheidung anbahnte.
Ich drehte mich um und Kims Gesicht war nicht einmal zwei Zoll von meinem entfernt; ich zog keuchend die Luft ein und bereute es gleich darauf wieder. Ein merkwürdig fremder Geruch ging von Kim aus, ein Geruch nach verfaulten Rosenblättern gemischt mit verfaultem Mandelöl und irgendetwas anderem, was in mir keine Assoziation auslöste. Das Blut gerann mir in den Adern.
»Sind Hive hier?«, herrschte ich sie an.
Sie zuckte die Achseln und die Bewegung ließ ihre Brüste hüpfen, unmerklich fast in dem streng geschlossenen Kleid und doch so deutlich, dass mir die damit verbundene Erinnerung an ihren Körper einen schmerzhaften Stich versetzte. Keiner von uns will die Vorzeichen sehen, die deutlich wahrnehmbaren Andeutungen, die auf etwas Unerklärliches, auf etwas Schreckliches hindeuten, auf etwas, was uns in den Strudel der Vernichtung zieht - und das trotz des großen Interesses, mit dem wir alles verfolgen, was uns einen angenehmen Schauer des Gruselns über den Rücken jagt. Aber das hier war nicht angenehm. Das war kein Anzeichen, das man so einfach übersehen konnte. Es war die Einladung zu einer Höllenfahrt und es war zweifellos eine Fahrt, vor der ich mich nicht drücken konnte.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang gequält und doch gleichzeitig hohl, so wie eine Roboterstimme in einem der unsäglich schlechten Flash-Gordon-Streifen, die mich als Jugendlicher viele Jahre lang als Vorfilme der großen Kinofilme wie Ben Hur gleichermaßen genervt wie fasziniert hatten. Ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, woran ich bei ihr war. Was oder wer war sie?
Ihr Blick wanderte an mir vorbei und in ihrem Gesicht veränderte sich etwas, fast unmerklich glitt ein Ausdruck sanften Erstaunens über ihre Züge und gleichzeitig eine Lebendigkeit, ein schwaches Erröten wie bei einem prallen Bauernmädchen, das beim Einkaufen zufällig seinen heimlichen Liebhaber entdeckt. Das war nicht Kim, die so blickte, nicht Kim, die auf diese uralte und dennoch frische Art erblühte, nicht Kim, die leicht den Mund öffnete und in einer unbewussten Geste mit ihrer Zunge sinnlich und fast nachdenklich ihre Unterlippe berührte...
Ich kämpfte ein paar Sekunden mit mir. Dann riss ich den Kopf herum und die Augen quollen mir fast aus den Höhlen.
Hinter mir, nur wenige Meter von mir entfernt, stand Steel. Er lächelte. Nein, es war eigentlich kein Lächeln, es war ein fest gefrorenes, unnatürliches, abstoßendes Grinsen, das alles bedeuten konnte oder auch nichts. Er fixierte mich mit seinem einen gesunden und seinem einen zerstörten Auge in der unnachahmlich eleganten Ruhe, wie sie vielleicht eine Raubkatze aufbringt, kurz bevor sie zum tödlichen Sprung auf ihr Opfer ansetzt. Im Halbdunkel hatte das weiße, zerstörte Auge Steels etwas Gespenstisches; das spärliche Licht der Notbeleuchtung spiegelte sich unnatürlich hell in ihm und verlieh ihm etwas Unwirkliches, so als sei es gar kein menschliches Auge, sondern tatsächlich das einer Raubkatze, das Licht auf eine ganz eigene Art reflektiert. Obwohl mich vor diesem Auge ekelte, konnte ich doch nicht den Blick von ihm wenden.