»Die ganze Sache mit dem, was ihr Ganglien nennt und sowieso nie verstehen werdet, ist für euch Menschen natürlich viel zu kompliziert«, sagte er. »Aber dafür haben wir ja jetzt auch etwas entwickelt, das speziell auf eure Spezies zugeschnitten ist.« Er machte eine Kunstpause und gleichzeitig einen erneuten Schritt auf mich zu. Erst da wurde mir bewusst, dass ich immer noch die Pistole in der Hand hielt. Ich konnte ihn jederzeit niederschießen. »Majestic ist unser Testfall. Wir haben in den letzten Jahren etwas vervollkommnet, was sich über jedes geschlossene Lüftungssystem bis in die hinterste Ecke eines Bauwerks ausbreitet. Euer Dr. Hertzog würde das wahrscheinlich die Alpha-Phase nennen. Während dieser Alpha-Phase wird etwas über die Lüftung ausgeschüttet, das sich ins lymbische System einnistet und damit die hormonelle Steuerung und das vegetative Nervensystem beeinflusst - genau in die Richtung, die wir benötigen. Und der Witz dabei«, jetzt stand er direkt vor mir: »Dieses Zeug wurde von menschlichen Wissenschaftlern speziell für unsere Belange entwickelt.«
Ich hob langsam meine 38er. Die starke Ausdünstung Steels vermischte sich mit dem, was die Lüftungsanlage ausstieß, zu einem ekelhaften Gestank, der jeden Atemzug zur Qual werden ließ und meine Gedanken durcheinander brachte, als würde sich jemand mit einem Quirl in meinem Gehirn zu schaffen machen. Trotzdem brachte ich die Pistole zentimeterweise nach oben.
Steel schnupperte wie ein Hund, der einen besonderen Leckerbissen wittert. »Riecht ihr das?«, fragte er. »So riecht das, was eurem menschlichen Wollen den Tod bringen wird. Zuerst verändert es fast unmerklich eure Reaktionen, schaltet sich zwischen euer beschränktes Großhirn und dieses komische Relikt aus eurer Vergangenheit, das eigentlich vollkommen überflüssige Stammhirn - was seid ihr doch für Fehlkonstruktionen! Dann gaukelt es euch Dinge vor, die gar nicht da sind. Es spielt mit euren Gedanken Football.« Sein blindes Auge glühte mich an, als wollte es sich durch mich hindurchbohren. »Und dann seid ihr bereit für die Beta-Phase.«
Ich wusste nicht, wo sich Kim befand, oder Ray und Marcel. Die Erinnerung an sie war merkwürdig verschwommen, als hätte ich die Ereignisse der letzten Stunden nur geträumt und würde nun langsam erwachen. Doch wenn ich erwachte, dann in einen Albtraum hinein, der schlimmer war als alles, was ich je in meinem Leben geträumt hatte. Denn nichts und niemand war realer als Steel, der so nah vor mir stand, dass ich seinen schrecklichen Odem des Todes nicht aus der Nase bekam.
»In der Beta-Phase schließlich beginnt die Mutation. Zu den Details komme ich später.« Steels Stimme war jetzt fast zu einem Flüstern abgesunken, aber vielleicht empfand ich das auch nur, vielleicht war meine Wahrnehmung schon zu sehr getrübt, um noch ohne Anstrengung seinen Worten folgen zu können. Mein Daumen glitt über den Sicherungshebel; die Pistole war bereit, kaltes Metall in Steel zu pumpen. Jetzt kam es nur noch auf mich an.
»Doch zuerst das wunderbare Ergebnis: Alle Menschen in diesem Gebäude werden danach uns gehören.« Seine Stimme klang wie die Karikatur eines Predigers, der voller Inbrunst den Tag des Herrn herbeiredet. »Diejenigen, die schon einmal Gast bei uns waren wie Marcel, haben die Ehre, den Samen der Befreiung über die ganze Welt zu tragen. Die anderen unterstützen sie dabei. Und das Beste dabei: Was bei Majestic klappt, lässt sich auch überall sonst durchführen. Bei jeder Regierung auf dieser Welt, sofern man sie nur dazu bringt, klimatisierte Räume aufzusuchen, die ein ganz klein bisschen manipuliert worden sind. Diese Regierungen werden anschließend mit Freude jeder Art bedingungsloser Kapitulation zustimmen.«
Es war nicht einfach, die Pistole in die Waagerechte zu bekommen; sie wehrte sich, als sei sie ein eigenständiges Wesen. Aber ich wusste, dass ich nicht mehr länger zögern durfte. Sosehr Steel auch offensichtlichen Gefallen daran fand, mich und Marcel mit seinen Erklärungen zu quälen, so bald würde er doch damit aufhören und dann zum praktischen Teil überleiten - wie auch immer der aussah.
»Und jetzt zur Zeremonie.« Steels Lächeln wurde noch breiter. »Ray, Kim und ich sind diejenigen, die sich vereinen müssen, um das zu gebären, was wir dann über die Lüftungsanlage hinausatmen können, bis es sich tief ins Innere aller gräbt, die sich hier aufhalten. Die Zeremonie wird uns so vereinigen, wie sich sonst Menschen nie nahe sein könnten.«
Man glaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, und dann türmt Steel Wort auf Wort zu einem neuen Satz und dieser Satz drückt alle vorhergehenden beiseite - und treibt mich in den Wahnsinn.
Das war der passende Moment, um abzudrücken. Meine Hand verkrampfte sich um das kalte Metall der Waffe und plötzlich fiel der Schleier von meinen Gedanken. Es war der Tod, an den ich dachte, der Hass gegen Steel und seinesgleichen, den ich empfand, und die Angst um Kim, die mich antrieb. Meine Finger verkrampften sich um den kühlen Stahl. Gleichzeitig spürte ich, wie auch Steel zugriff, meine 38er am Lauf packte und zur Seite bog. Sein feixendes Gesicht verschwamm vor meinen Augen und einen Augenblick war ich sicher, dass ich ohnmächtig werden würde. Doch dann gewann die kalte Entschlossenheit in mir die Oberhand und ich schob die 38er mit einer verzweifelten Anstrengung in Steels Bauchhöhle. In Steels gesundem Auge blitzte so etwas wie Überraschung auf. Ich weiß nicht, was ich in diesem Moment dachte. Ich hatte das Gefühl, Steel würde mir mein Handgelenk brechen, nein, es geradezu herausreißen, aber der stechende Schmerz war nichts gegen die ungebändigte Energie meines Hasses auf alles, was Steel repräsentierte.
Es war ein ungleicher Kampf. Ich drückte ab. Gleichzeitig presste sich Steel näher an mich. Das, was er ausdünstete, hätte mir bei anderer Gelegenheit sicherlich den Magen umgedreht, doch so steigerte es nur meine Abscheu und meinen Kampfwillen. Beim Knall des Schusses spürte ich keinen Triumph, nicht einmal Befriedigung, sondern nichts weiter als den Wunsch, diese Kreatur auszulöschen, ein für allemal auszulöschen.
Es gelang mir nicht. Steel hatte mit seiner festen Bauchdecke den Lauf der Waffe von sich weggedrückt und ich konnte dem nichts entgegensetzen. Der Schuss schrammte an seinem Bauch vorbei, nahm ein paar Stofffetzen seines sowieso schon ruinierten Hemdes mit sich und vielleicht auch ein paar Hautfetzen, das war alles.
Er ließ mir keine weitere Chance. Mit einem festen Ruck packte er die 38er und entriss sie meiner Hand. Während er ein paar Schritte zurückging, hörte ich sein schreckliches Lachen, mit dem er mich verhöhnte und klar machen wollte, dass ich aber auch nicht mehr die geringste Chance hatte.
»John!«, hörte ich Kimberleys besorgte Stimme.
»Keine Sorge, mein Schatz, er ist in Ordnung«, sagte Steel. »Und bald wird er zu uns gehören.«
25. November 1963, 11:13
Unterhalb von Majestic
»Wir müssen etwas tun«, sagte Marcel leise. Er hockte gleich mir auf dem schmutzigfeuchten Boden des ungemütlich dunklen Raums, den Steel zu unserem Gefängnis bestimmt hatte. Das einzig Positive war, dass es hier zwar nach Fäulnis und abgestandenem Wasser roch, dass sich aber der unnatürliche Geruch, der sich über die Lüftungsanlage im ganzen Gebäude verteilt hatte, noch nicht hatte durchsetzen können; offensichtlich war in diesem Teil des Stockwerks die Lüftung defekt. Vielleicht hatte Steel das nicht bedacht, als er uns hier in der durch eine einzige matte Glühbirne nur spärlich erhellten Dunkelheit abgeliefert hatte - eine kleine Nachlässigkeit von ihm und ein Vorteil für uns. Dabei war mir klar, dass wir höchstens eine Schonfrist hatten, bis sich die Luft auch hier austauschen würde durch die kleinen Ritze, die die verschlossene Tür nicht vollkommen abdeckte.
»Tun?«, fragte ich heiser und erinnerte mich mit Grausen daran, in welchem Zustand ich noch vor zehn Minuten gewesen war, als ich dem über die Lüftungsanlage kommenden Gasangriff vollkommen schutzlos ausgeliefert war. »Was können wir schon tun?« Ich wollte weitersprechen, aber mir fehlten die richtigen Worte. Es gab Dinge, die einfach nicht sein sollten. Sie verletzten die Weltordnung oder auch vielleicht nur die Ordnung, die wir Menschen uns auf unserem kleinen Planeten Erde selbst gegeben hatten. Menschen brachten Menschen um, verstümmelten sie, quälten sie, töteten sie aus Habgier oder auf Befehl verrückter Generäle. Überschwemmungen spülten ganze Landstriche weg, Hurrikane radierten Ortschaften aus, Waldbrände rannten mit ihren Feuerwalzen Bauernhöfe und ganze Dörfer nieder. Aber all das gehörte zu unserer Ordnung, genauso wie die tiefe Verbundenheit, die zwei Liebende verband, oder die Hilfsbereitschaft, die uns für Opfer in einer Krisenregion spenden ließ. Das war unsere Ordnung. Und jetzt kam irgendetwas aus dem All zu uns und stülpte alles um. Nichts galt mehr, nichts war mehr so wie zuvor. Diese Bedrohung hatte ihre eigene furchtbare Logik, und um dieser logischen Kette folgen zu können, musste man einen dunklen Pfad einschlagen, der alles negierte, was ich bislang gedacht hatte und wonach ich mein Leben ausgerichtet hatte - und dazu war ich in keinster Weise bereit.