»Ich weiß nicht, was wir tun können«, sagte Marcel. Seine Stimme klang heiser und kraftlos wie bei einem Grippekranken, der gegen sein Fieber anzukämpfen versucht und sich fürs Erste noch einmal geschlagen geben muss. »Aber ich weiß, dass wir etwas unternehmen müssen. Wir können doch nicht einfach zusehen, wie diese... Dinger unsere Welt ausquetschen wie einen nassen Schwamm.« Er richtete sich auf und sah mir geradewegs in die Augen. »Es geht nicht nur um uns beide, auch nicht nur um Ihre Freundin und Ihren Bruder und schon gar nicht um Steel oder Bach. Es geht um unsere Welt, John, um alles, was wir glauben.« Er machte eine kleine Pause und sein Blick verschwand in der Ferne. »Wenn wir es nicht wenigstens versuchen, sind wir es nicht wert weiterzuleben. Wobei ich allerdings bezweifle, dass sie uns auf Dauer überhaupt weiterleben lassen würden.«
Natürlich hatte er Recht, mit jedem Satz. Aber da war etwas in mir, das mich lähmte, das es mir unmöglich machte, kraftvoll und energisch gegen die unheimlichen Kräfte der Hive anzutreten. Ich wusste nicht, wie ich es Marcel erklären sollte. Es war nicht nur einfach Angst, nicht die Angst, die man empfindet, wenn man als Fallschirmspringer geradewegs in feindliches Maschinengewehrfeuer segelt, nicht die Angst, wenn ein Truck auf einen zurast und man weiß, dass man nicht mehr ausweichen kann, und auch nicht die Angst, die ein Bergsteiger an einem steilen Hang empfinden muss, wenn die Stahlklampen, an dem sein Sicherungsseil befestigt ist, ruckhaft aus zu lockerem Gestein ausbrechen. Es war vielmehr ein tief empfundenes Entsetzen ähnlich dem in meiner frühen Kindheit, wenn ich etwas getan hatte, was meinen Vater so gegen mich aufbrachte, dass er nicht anders konnte, als mich zu verprügeln. In dieses Entsetzen mischte sich die Scham, selbst etwas Schreckliches getan zu haben, und die absolute Gewissheit, dass ich nichts mehr tun konnte, um es gutzumachen, dass ich von jetzt an als Schwächling und Verräter gekennzeichnet war.
»Es ist vorbei«, sagte ich. »Wir können nichts mehr tun.« Meine Stimme klang erstickt und schwankte und es überkam mich ein Gefühl der Selbstverachtung, wie ich es seit meinen frühen Kindheitstagen nicht mehr gekannt hatte - und das Schlimme war, dass ich absolut nichts dagegen tun konnte.
»Es ist noch lange nicht vorbei«, sagte Marcel grimmig. »Nicht solange wir noch wir selbst sind, nicht solange wir noch leben und bei Verstand sind.« Er lachte heiser auf, ein schmerzlicher Laut, in dem gleichermaßen Verzweiflung wie Kraft mitschwang. »Wir werden es diesen Bastarden zeigen, irgendwie.«
»Dagegen hätte ich nichts«, sagte ich leise. »Die Frage ist, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
»Bis wir so werden wie Steel?« Marcel lächelte grimmig. »Dazu werde ich es auf keinen Fall kommen lassen. Eher bringe ich mich selber um.«
»Keine schlechte Idee«, antwortete ich mit verebbender Stimme, »fragt sich nur, ob wir noch dazu kommen, wenn es so weit ist.«
Es war nicht mehr der Tod, den ich fürchtete. Kims und mein Leben war bereits zerstört, und wenn ihr wirklich das widerfahren war, was ich befürchtete, und sie sich auf dem Weg befand, so wie Steel zu werden, ein Symbiot, ein Mischling aus dem, was sie einst gewesen war, und etwas grauenvoll Fremdem, das unsere Welt zerstören wollte - dann war der Tod vielleicht noch das gnädigste Schicksal.
Allerdings für uns beide. Und nicht nur für mich.
Marcel zuckte mit den Achseln. »Akademische Diskussionen können wir führen, wenn wir das Ganze hinter uns haben.« Er erhob sich. »Zuerst müssen wir hier raus. Haben Sie irgendwelche Ideen?«
»Ich habe überhaupt keine Idee«, schrie ich ihn an und meine Stimme überschlug sich fast.
Einen Moment lang starrte er mich wortlos an. Ich war selbst überrascht von meinem Ausbruch, über die wütende Mutlosigkeit in meiner Stimme, und unter normalen Umständen hätte ich mich entschuldigt. Aber die Umstände waren so wenig normal, wie sie es nur sein konnten. Ich war am Ende. Was hätte ich schon tun können? Versuchen, hier auszubrechen, nachdem Steel den Raum von außen zugeschlossen und keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass das eine eigentlich überflüssige Vorsichtsmaßnahme war, weil wir sowieso in Kürze willenlose Geschöpfe waren? Die Gänge draußen hingen voll von dem Zeug, das mich schon einmal fast zum Abheben gebracht hatte. Selbst wenn wir hier aus diesem Raum rauskämen - es würde höchstens ein paar Meter dauern, bis ich wieder voll gepumpt war von diesem Gasgemisch der Alpha-Phase, wie Steel sie nannte.
Marcel sah mich eine ganze Zeit lang schweigend an und sein ruhiger Blick war mir mehr als unangenehm. Ich wusste nicht, woher dieser kleine Mann die Kraft nahm, weiter und weiter gegen sein Schicksal anzukämpfen. Bach hatte gesagt, er sei ein Mann ohne Rückgrat. Und irgendetwas sagte mir, dass Bach wirklich dieser Meinung war. Wie hatte er sich nur so täuschen können?
»Es muss einen Weg geben«, beharrte Marcel. Er sah sich aufmerksam in dem Raum um und ich folgte seinem Blick. Allerlei Gerümpel stand hier herum, aber nicht von der Art, wie man es in muffigen Kellern findet, sondern wie es für einen alten Labortrakt in einer verlassenen Fabrik typisch ist, der vor dem endgültigen Exodus des Unternehmens nicht mehr komplett geräumt werden konnte. Einige unordentlich aufeinander geschichtete Kisten mit hastig zusammengeräumten Instrumenten und Reagenzgläsern deuteten darauf hin, dass man hier einst wirklich vorgehabt hatte, diesen Raum in aller Eile zu verlassen. Auf den schweren Holztischen standen einige fest montierte Geräte, die so groß und schwer waren, dass sie aus einer Zeit stammen mussten, als Kathodenröhren noch als modern galten. Ich erkannte ein staubiges Mikroskop mit altmodischen Stellrädern, wie sie vielleicht zur Zeit des Ersten Weltkriegs üblich gewesen waren, und in schmutzigbraune Gehäuse eingelassene Messgeräte mit mittlerweile grünlich oxidierten Leitern, abstrus groß wirkenden Hebelschaltern und Porzellanisolatoren, braune, brüchige Stromkabel in geflochtener Textilummantelung, die irgendwo ins Nichts führten, herausgezogen aus ihren Steckdosen vor vielleicht vierzig Jahren oder auch erst vor kurzem - das ließ sich nicht erkennen.
Es machte keinen Unterschied. Bei einer anderen Gelegenheit hätte ich mit Sicherheit die Gerätschaften genauer untersucht und darüber spekuliert, zu welchem Zweck sie hier aufgebaut worden waren, wer sich an ihnen zu schaffen gemacht hatte und was der Zweck dieses Laborraums einst gewesen sein könnte. Doch so war mir das herzlich egal. Es war nichts weiter als der Hintergrund meiner persönlichen Tragödie, die ihre Schatten nach mir ausstreckte und mich schon in wenigen Stunden zu etwas verwandeln würde, was ich mehr fürchtete als den Tod.