Undeutlich nahm ich wahr, dass die Lüftungsanlage hier auf Hochtouren lief und es so war, als käme man in Grönland in eine Wohnung, deren Fenster weit geöffnet sind. Doch das war nicht der Grund dafür, dass eine Welle von Übelkeit über mir zusammenbrach und mein Magen sich gleichzeitig so hart verkrampfte, als würde er aus Beton bestehen. Es war der gleichzeitig groteske und abstoßende Anblick von Kim und meinem Bruder Ray, die in einer grotesken Umklammerung einer Maschine festgehalten wurden, vereint ausgerechnet mit Steel in der Art, von der er behauptet hatte, sie sei intimer als alles, was Menschen kennen würden.
Ich kam nicht dazu, eine Entscheidung zu treffen. Die Tür zu diesem Raum war unverschlossen gewesen, aber das war ja auch nicht weiter verwunderlich; wahrscheinlich waren Marcel und ich außer den drei die einzigen Menschen auf diesem Stockwerk und Steel hatte uns sicher verstaut gewähnt. Das allerdings bedeutete nicht, dass der mir vollkommen unbegreifliche Vorgang ungesichert ablief. Kaum waren wir eingetreten, da begann sich die Beleuchtung zu verändern und ein helles singendes Geräusch erklang, das sich unangenehm in meine Gehörgänge bohrte.
Auch die Apparatur, die Kimberley und die anderen umschlungen hielt, erwachte zur neuen, wahrscheinlich für Notfälle vorgesehenen Aktivität. Das blitzende, spiralförmige Etwas kroch mit reptilienähnlicher Eleganz zurück, schob sich in enger Umarmung über Arme und Brustansatz und enthüllte Stück für Stück Oberkörper und schließlich Kopf der drei wie in Trance befindlichen Personen.
Es kam mir vor, als wohnte ich einem gleichermaßen schrecklichen wie intimen Vorgang bei.
Marcel hustete, hart und mehrmals hintereinander, ein roher Klang, der wie Gewehrschüsse die merkwürdige Stimmung zerriss. »W-w-wir«, begann er, dann schüttelte ihn ein erneuter Hustenanfall.
Ich war wie gelähmt. Stand einfach in der gnadenlosen Kälte da, die langsam über die Haut in mein Inneres kroch und sah zu in morbider Faszination, wie sich der Raum veränderte, zu einem bizarren Leben erwachend wie ein Drache, der mutwillig gestört wird. Ein rötlichblaues Licht ging von der Mitte des Raumes aus, fast unmerklich erst, verbreitete sich und schwappte in Wellen über uns hinweg. Mein Blick hatte sich an Kims Gesicht fest gesaugt. Sie war blass, so erschreckend blass, und doch lag ein friedlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht, der mich fast noch mehr erschreckte als alles andere. Es sah fast so aus, als sei sie aufgebahrt worden zum letzten Abschied in dieser grotesken Parodie einer Leichenhalle.
Marcels Husten wurde immer schlimmer. Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, dass er sich weit vorbeugte und nach Luft schnappte. Seine Augen tränten hinter der Brille. Und auch ich begann jetzt einen Reiz in der Kehle zu spüren, ein unangenehmes Reiben an den Stimmbändern und in der Luftröhre. Und dann brach ein röhrender Husten aus mir heraus, der mich durchschüttelte und mir die Luft zum Atmen nahm. Es war ein harter, würgender und trockener Husten, der die Kehle wund zu scheuern schien; es war ein Gefühl, als hätte ich eine ätzende Flüssigkeit in mich hineingekippt und versuchte sie nun wieder herauszuwürgen.
Fast war es, als würde mir das gelingen. Der Husten verengte sich zu einem fast bellenden Laut und dann war es vorbei.
Und doch ging es weiter, wenn auch auf andere Art. Nach dem Hustenanfall wurde mein Kopf merkwürdig leicht und ich hatte das Gefühl, wie auf einem Luftpolster zu schweben. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl. Lass einfach los, schien mir eine Stimme zuzuflüstern. Ich atmete flach; mein Instinkt wehrte sich gegen jeden tiefen Atemzug, aber etwas in mir sog gierig die eisige, verpestete Luft ein. Kurz darauf glaubte ich erneut zu schweben, sanft nach oben zu entgleiten, wie ein Luftballon, der sich um nichts und niemanden Gedanken machen muss. Der Raum schien größer denn je und die eiskalte Luft glich dichtem Nebel, der mich umhüllte und umschmeichelte. Es war in Ordnung so und alles, was ich tun musste, war, mich nicht dagegen zu wehren, sondern nur das zuzulassen, was geschah.
Marcels Gesicht kam in mein Blickfeld. Es war rotviolett; er sah aus, als würde er gleich einen Herzschlag bekommen. Aus irgendeinem Grund fand ich das ungeheuer komisch und ich begann leise zu kichern. Er wird sterben, dachte ich dabei, aber der Gedanke berührte mich kaum. Es war mir klar, dass auch ich sterben würde. So wie meine geliebte Kim. Tränen rannen mir die Wangen herunter, während mich gleichzeitig noch immer das krampfhafte Kichern schüttelte. Mit zwei, drei schwebenden Schritten näherte ich mich Kim. Kimberley Sayers, dachte ich, wie sehr hast du dich doch verändert. Bleich und blass, ein eiskalter Engel, in den die sibirische Kälte tief eingezogen sein musste, in der er nun vielleicht schon eine Stunde lag. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Kim ihre Augen aufschlagen würde, um mich anzublinzeln wie Dornröschen, nachdem es von dem mutigen Prinzen wach geküsst worden war.
Das Leben verläuft nicht so wie im Märchen. Es war nicht Kim, die die Augen aufschlug, um mich mit einem liebevollen Blick zu begrüßen. Es war Steel und sein Blick war alles andere als liebevoll. Sein gesundes Auge musterte mich mit einer Eiseskälte, die mich zum Frösteln gebracht hätte, wenn ich nicht sowieso schon vor Kälte gezittert hätte.
»Loengard«, brachte er hervor. So, wie er meinen Namen aussprach, klang es eher wie ein Ploppen denn wie ein normaler menschlicher Laut. »Ich hätte es mir denken können, du kleine Ratte.« Er schob sein bizarr helmähnliches Gebilde vom Kopf zurück und es glitt wie von einer gespannten Feder bewegt in eine Öffnung in der Wand zurück, die sich mit einem schmatzenden Geräusch schloss. Erst dann richtete er sich auf, mit unsicheren, langsamen Bewegungen, wie ich trotz meines miserablen Zustands mit Genugtuung bemerkte.
Seine Hände glitten vor und zurück und öffneten und schlossen sich ein paar Mal krampfhaft. Seine Gestik wirkte so unbeholfen, als sei es gar nicht sein Körper, in dem er sich wiederfand. Doch dann ging ein Ruck durch ihn und er wirkte wie eingeschaltet, als sei er ein Roboter, der nun nur noch seiner Programmierung zu folgen brauchte; er schwang die Beine über die Liege, in einer flüssigen und doch ungewohnt langsamen Bewegung, als koste es ihn immer noch Mühe, sich mir so unvermittelt zuzuwenden. »Du hättest uns nicht stören sollen.« Seine Stimme hatte einen ungewöhnlichen Akzent, ein Fauchen und Stöhnen schwang darin mit und das Wort uns klang wie das Schnauben eines Pferdes. »Nicht, dass es etwas ändern wird.«
Seine Beine berührten jetzt den Boden, aber noch zögerte er. Ich begriff, dass er sehr weit weg gewesen war und jetzt Mühe hatte, so unvermittelt in die Wirklichkeit zurückzufinden. Das hätte eigentlich ein Vorteil für mich sein können, aber ich kam nicht gegen dieses schwebende Gefühl in mir an und gegen die Gewissheit, das alles, was ich tun würde, nutzlos sein würde. Vielleicht sollte ich ihn einfach gewähren lassen. Vielleicht war es gut und richtig so, alles zuzulassen, vielleicht war es sogar Steel, der das Richtige tat, und ich es, der auf dem Irrweg war.
Plötzlich fiel mir auf, was ich da dachte, und ich schüttelte den Gedanken ab wie ein Hund sich das Wasser aus dem Fell schüttelt, nachdem er aus einem Regen wieder ins Trockene kommt. Irgendetwas machte sich in meinem Kopf breit, Einflüsterungen, die nicht aus mir selbst kamen, und plötzlich sah ich auch meine Antriebsschwäche bei unserer Flucht aus dem alten Labor, in das uns Steel eingesperrt hatte, mit ganz anderen Augen: Es war die ganze Zeit schon in mir gewesen, hatte mich zu lenken versucht in eine Richtung, die nicht die meine war. Ein Erinnerungsfetzen blitzte in mir auf, ich entsann mich der wenigen Sekunden, noch oben in Majestic, als die Lüftungsanlage ausgefallen war, um kurze Zeit später wieder stinkend anzuspringen. War das der Moment gewesen, in dem die Beeinflussung begonnen hatte, in dem etwas über die Luft, meine Atemwege und meine Lunge in mich eingedrungen war, das mich letztlich zu einem willenlosen Geschöpf der Hive, der Ganglien, der Grauen machen sollte und vielleicht teilweise auch schon gemacht hatte?