Er stand nur wenige Meter von mir entfernt und irgendwie wusste ich, was kommen würde. Der Killer Steel würde nicht einfach mit einer Geisel im Arm dastehen und darauf warten, dass ich den ersten Schritt tat. Er wollte mich zerreißen wie ein Berglöwe ein Wolfsjunges, das sich neugierig und unvorsichtig von seiner Mutter entfernt hatte. Und er würde es zweifelsohne schaffen, unter normalen Bedingungen.
Die Realität wich für mich immer mehr zurück. Ray, der röchelnd um Luft rang für seine letzten Atemzüge. Kim, meine geliebte Kim, die mit einem vollkommen verstörten Gesichtsausdruck auf Steels raue Umklammerung reagierte - alles das wich immer weiter zurück. Was übrig blieb, waren der Jäger und sein Opfer.
Steel glaubte der Jäger zu sein. Das war sein Irrtum. Als er sich abstieß, Kim dabei hart zur Seite schleuderte und mit einem Riesensatz bei mir war, verließ genau in diesem und keinem anderen Moment die letzte Kugel meine Waffe. Der Knall war genau zwischen mir und Steel, zwischen mir und dem stinkenden Etwas, zu dem Steel mutiert war, zwischen mir, dem Zauderer und Sensiblen, und Steel, dem gnadenlosen Killer, der er schon immer gewesen war.
Steel stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus - einen Schrei, in den sich Angst, Schmerz und Wut mischten. Aus dem runden Loch neben seiner Nasenwurzel spritzte Blut hervor und er riss eine Hand hoch, presste sie instinktiv an seine Wunde, als könne er damit die Blutung stoppen und die Verletzung ungeschehen machen. Gleichzeitig stolperte er auf mich zu, mit schleppenden, aber immer noch viel zu kraftvollen Bewegungen. Es hatte etwas Unwirkliches an sich, aber Steel war ja auch unwirklich, nicht mehr nur Mensch, sondern auch etwas Anderes, Unfassbares - und trotz all der Erklärungen von Bach und Hertzog würde meinem innersten Wesen für immer fremd bleiben, in was er sich verwandelt hatte.
Wenn Kim nicht in diesem Moment aufgeschrien hätte, ein hoher, spitzer Schrei, als sie über die Liege stolperte, das Gleichgewicht verlor und hinschlug, wäre ich vielleicht wie gelähmt stehen geblieben und Steel hätte mich doch noch erwischt, mit seinem wie eine Baggerschaufel vorgestreckten linken Arm, der mich zerquetschen würde, ohne mir die Chance zur Gegenwehr zu geben.
Doch Kims Schrei riss mich aus meiner Erstarrung und es wurde mir schlagartig klar, dass es um mehr ging, als nur dieses Monster zu besiegen. Mit einem verzweifelten Satz steppte ich beiseite und Steel stolperte an mir vorbei. Mit einer uneleganten, plumpen Drehung versuchte er die Richtung zu ändern und seine Hand schrammte an meiner Wange vorbei. Doch dann knickte er in die Knie ein, röchelte und fiel schwer wie ein Sack vornüber.
Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Mein Blick galt nur noch Ray, der mittlerweile in sich zusammengesackt war; auf allen vieren lag er am Boden und sein Kopf stand seltsam schief vom Körper ab; überall war Blut, so schrecklich viel Blut, und immer noch sprudelte Blut aus der Halsschlagader hervor, aber es war ein versiegender Lebensfluss und wenn er zum Stillstand gekommen war, würde auch Ray tot sein.
Mit ein paar wenigen Schritten war ich bei meinem Bruder. Ich ließ mich neben ihm nieder, packte sein Handgelenk und suchte seinen Pulsschlag - obwohl ich schon vorher wusste, dass ich dort nichts finden würde, suchte ich verzweifelt nach einem Lebenszeichen, einem Ansatz für Hoffnung.
Aber es gab keine mehr. Seine Augen starrten gebrochen und tot durch mich hindurch und um seine Mundwinkel stand ein Lächeln, das ich nicht verstand, das ich umso grausamer fand angesichts der Qual, in der er hatte sterben müssen. Tränen stiegen in meine Augen und rannen mir die Wangen hinab. Ich verstand es nicht. Ich verstand einfach nicht, dass er hatte sterben müssen. Wo war der Sinn in all dem?
Ich hörte ein Geräusch hinter mir und drehte mich langsam um. Fast erwartete ich, dass sich Steel wieder aufgerappelt hatte, und fast war es mir egal. Aber es war Kim, die auf mich zustolperte; ihre Augen waren riesig, ihre Lippen zitterten, ihr Gesicht war vor Schrecken aschfahl. »Ist er...?«, fragte sie.
Ich nickte langsam und erneut stiegen mir Tränen in die Augen. »Ja«, sagte ich mit belegter Stimme. »Er ist tot.«
Ich weiß nicht, wie lange ich so neben ihm hockte, mit Kim hinter mir, die mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte und leise schluchzte. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, vielleicht etliche Minuten - doch sie erschienen mir wie eine Ewigkeit. Szenen aus unserer gemeinsamen Jugend kamen mir in den Sinn, abgehackt und durcheinander gewirbelt, und ich bekam keinen einzigen Erinnerungsfetzen wirklich zu fassen. Es war so unbegreiflich. So ohne Sinn. Der Junge, mit dem ich groß geworden war, der Junge, mit dem ich gestritten, gerauft und herrliche Zeiten verlebt hatte - der war jetzt tot. Und irgendwie war ich für seinen Tod verantwortlich; ich hatte den Stein ins Rollen gebracht, der ihn schließlich mit hinab ins Verderben gezogen hatte.
Schließlich erhob ich mich wieder. Es kostete mich Überwindung, Rays Hand loszulassen; diese Geste hatte etwas erschreckend Endgültiges. Doch es war weder der rechte Ort noch die rechte Zeit zum Trauern. Ich musste Kim hier herausbringen - und dann musste ich meinen Eltern beibringen, irgendwie, dass ich ihren Sohn Ray auf dem Gewissen hatte.
Als Kim und ich uns gegenüberstanden, konnten wir gar nicht anders, als uns in die Arme zu fallen. Es hatte etwas Verzweifeltes an sich, wie bei einem Liebespaar, das vom Schicksal auseinander gerissen wird und weiß, das es sich wahrscheinlich nie wieder sehen wird, oder wie bei einem Soldaten, der sich von seiner Liebsten am Bahnhof verabschiedet, wohl wissend, dass die Floskel bis der Tod euch scheidet nur allzu bald blutige Realität werden kann. Einen zeitlosen Augenblick standen wir so da, alles um uns herum vergessend. Nur noch Kim und ich und ein Gefühl aus Trauer, Liebe und unendlicher Müdigkeit. Ein Geräusch, das wie durch eine Wattewand an mein Ohr drang, holte mich langsam in die Wirklichkeit zurück. Als ich in Kims blasses, wie nach einer Operation langsam erwachendes Gesicht sah, konnte ich einfach nicht anders, als sie zärtlich zu küssen. So als wäre es unser erster Kuss, zart, ängstlich und vorsichtig, um nicht etwas gerade Aufblühendes zu zerstören.
Ein erstickter, schrecklicher Laut ließ uns zusammenfahren; mehr ein ersticktes Röcheln als ein Schrei. Zuerst glaubte ich, es sei Ray, der doch noch nicht vollkommen tot war und den wir einfach im Sterben hatten liegen lassen, ohne uns die Mühe zu geben, ihm beizustehen - aber ein rascher Blick überzeugte mich davon, dass ich mich geirrt hatte. Es war auch nicht Steel, der von den Toten wieder auferstanden war oder der vielleicht gar nicht tödlich verletzt worden war und nun aus einer Bewusstlosigkeit erwachte.
Es war Marcel. Er kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, in einer Haltung, die einem Schlafwandler glich, aber ungleich dramatischer war. Seine Pupillen waren so erweitert, das sie fast über den Rand seiner dicken Brillengläser hinauszutreten schienen. Seine Hände, seine Arme, ja, sein ganzer Oberkörper zitterten und um seinen Mund hatte sich Schaum gebildet, der an einen Tollwütigen erinnerte. Es sah nicht nach einem normalen Nervenzusammenbruch aus, es war mehr als nur Hysterie; es war der vollständige Zusammenbruch eines Menschen und seiner sämtlichen Lebenssysteme, der sich da ankündigte.
Er blieb direkt vor uns stehen, keuchend, röchelnd und nach Atem ringend. »O Gott«, keuchte er. »Sie haben... mich... erwischt.« Er stieß einen hellen, spitzen Schrei aus, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde, einen Schrei, der überhaupt nicht zu diesem kleinen tapferen Mann passte, der die letzten Stunden des Irrsinns so souverän gemeistert hatte.