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Ich war nahe daran, mein mittlerweile schal gewordenes Bier auszutrinken und es aufzugeben, als sich ein zweites, verzerrtes Spiegelbild neben das Jim Steels in meinem Bierglas setzte.

»Mister Ruby!« Steel hob sein Whisky glas und prostete dem Mann spöttisch zu. »Ich dachte schon, Sie hätten unsere Verabredung vergessen.«

Ich nahm all meinen Mut zusammen, drehte mich auf dem Barhocker halb herum und tat so, als hätte ich nun doch mein Interesse für die Stripteasevorführung auf der Bühne entdeckt. Die Tänzerin hatte mittlerweile gewechselt, aber die Qualität der Darbietung nicht. Immerhin konnte ich den Mann, der sich zu Steel gesetzt hatte, jetzt deutlich erkennen. Er musste zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt sein, neigte zur Fettleibigkeit und trug einen teuren Anzug, der an ihm aber seltsamerweise ebenso schäbig wirkte wie dieses ganze Etablissement. Er war sehr nervös. Hätte er gewusst, dass sein Gesicht vierundzwanzig Stunden später auf jedem Fernsehschirm der westlichen Welt zu sehen sein würde, wäre er vermutlich noch sehr viel nervöser gewesen.

»Wieso kommen Sie hierher, Jim?«, fragte er. »Ich will nicht, dass wir uns hier treffen, das wissen Sie doch!«

Steel lachte und nippte an seinem Whisky. »Was ist los mit Ihnen, Jack? Fühlen Sie sich nicht gut?«

»Gut? Wer, zum Teufel, fühlt sich heute in diesem Land gut!«

»Ich«, antwortete Steel. »Und Sie sollten es auch, Jack. Sie haben keinen Grund, beunruhigt zu sein. Alles ist ganz hervorragend gelaufen.«

Ich sah nicht direkt in Rubys Richtung, aber er fuhr so heftig zusammen, dass es mir gar nicht entgehen konnte. Plötzlich begann er zu lachen; leise, hysterisch und nur für ein paar Sekunden, ehe der Laut in etwas anderes, Unangenehmes überging. »Ich... höre etwas, Jim«, stammelte er.

»Wir alle hören ständig irgendetwas, oder?«, antwortete Steel. »Das ist unser Job.«

Ruby schien seine Antwort gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Ich höre ununterbrochen... Dinge«, murmelte er. »Stimmen, Jim. Fremde Stimmen. Fremde Gedanken. Ich... ich kann sie nicht abstellen.«

»Sie hören die Gedanken der Leute hier?« Ich konnte Steels Gesicht nicht erkennen, aber sein schmieriges Grinsen war beinahe zu hören. »Dann müssten Sie aber den ganzen Tag mit roten Ohren herumlaufen, Jack.«

»Ich meine es ernst«, antwortete Ruby. »Ich... ich ertrage das nicht mehr! Es ist in meinem Kopf! Stimmen, die mir... Dinge zuflüstern. Was haben Sie mit mir getan, Jim?«

»Ich?« Steel lachte ganz leise. »Nichts, Jack, das wissen Sie doch... Was geht denn in Ihrem Kopf vor, Jack?«

»Oswald«, antwortete Ruby.

»Oswald? Wer ist das?«

»Irgendetwas wird passieren«, murmelte Ruby. »Etwas Schlimmes. Ich... ich weiß nicht, was, aber es wird passieren. Bald. Warum... warum weiß ich das alles, Jim?«

Irgendwie spürte ich Steels Bewegung, einen Sekundenbruchteil bevor er sich wirklich herumdrehte und in meine Richtung sah. Ich widerstand der Versuchung, erschrocken auf dem Barhocker herumzufahren, sondern drehte nur das Gesicht zur Theke und griff nach meinem Bier. Die verzerrte Spiegelung darin zeigte mir, dass Steel nicht mich anstarrte, sondern nur einen raschen, suchenden Blick in die Runde warf. Für jeden, der nicht wusste, wer Jim Steel wirklich war, war das Gespräch bisher vielleicht sonderbar gewesen, aber trotzdem unverfänglich. Steels nächste Worte bewiesen, dass das nicht mehr lange so bleiben würde.

»Lassen Sie uns irgendwo hingehen, wo wir reden können, Jack«, sagte er. »Ich denke, ich kann Ihnen helfen.«

»Ich... ich will das nicht«, stammelte Ruby. Seine Stimme zitterte. Jetzt, wo ich ihn nicht mehr direkt ansah, fiel es mir schwer, seinen Worten noch zu folgen, aber ich hörte, dass nicht mehr die mindeste Kraft darin war. Nicht einmal mehr Trotz. Sie klang... verzweifelt. Die Stimme eines Menschen, der nicht mehr die geringste Hoffnung hatte.

»Gehen wir in Ihr Büro«, antwortete Steel. Er stand auf.

Ruby zögerte, seufzte dann so tief, dass es fast wie ein Stöhnen klang, und erhob sich schließlich ebenfalls. Mein Herz schien für einen Moment auszusetzen, als die beiden so dicht an mir vorübergingen, dass ich Rubys billiges Aftershave riechen konnte. Aber ich hatte abermals Glück. Steel würdigte mich nicht einmal eines Blickes, sondern ging dicht hinter Ruby auf eine schmale, mit einem Vorhang verschlossene Tür zu, durch die sie beide verschwanden.

Ich zählte in Gedanken bis fünf, dann erhob auch ich mich möglichst unauffällig, schlenderte in die gleiche Richtung wie Steel und Ruby und versuchte, einen verstohlenen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, als ich mich dem Vorhang näherte. Niemand nahm von mir Notiz. Der Barkeeper kämpfte hinter seinem Tresen gegen das Einschlafen und die wenigen Gäste starrten noch immer auf die Bühne und warteten vergeblich darauf, dass der dargebotene Striptease spannender wurde. Eine bessere Gelegenheit als jetzt würde sich kaum noch bieten.

Mit einem entschlossenen Schritt trat ich durch den Vorhang, halbwegs darauf gefasst, einem grinsenden Steel gegenüberzustehen, der mit einer Waffe auf mich zielte. Stattdessen jedoch befand ich mich in einem schmalen, muffig riechenden und nahezu unbeleuchteten Gang, in dem sich Bierkisten und Pappkartons mit billigem Whisky stapelten. In einiger Entfernung gewahrte ich einen matten Lichtschein. Als ich mich darauf zu bewegte, erkannte ich, dass es ein ehemaliges Fenster war – ehemalig, weil jemand die Scheibe mit weißer Farbe angemalt hatte, so dass noch schwaches Licht hindurchschien, aber keine Einzelheiten zu erkennen waren. Ganz leise glaubte ich auf der anderen Seite Steels Stimme zu hören, war aber nicht sicher. Dann entdeckte ich eine winzige, frei gebliebene Stelle auf dem Glas; kaum so groß wie ein Daumennagel und ungefähr in Höhe meines Gürtels. Behutsam ließ ich mich in die Hocke sinken und spähte hindurch.

Ich kann selbst nicht genau sagen, was ich zu sehen erwartete – wahrscheinlich alles oder nichts –, aber der Anblick, der sich mir durch das unregelmäßige Guckloch bot, war beinahe enttäuschend. Rubys Büro – wenn es sich denn darum handelte – entsprach so sehr dem Klischee eines Hinterzimmerbüros in einem schmierigen drittklassigen Nachtclub, dass es schon fast wieder lächerlich wirkte. Auf dem protzigen Schreibtisch stand eine Lampe mit übergroßem Schirm und einer viel zu schwachen Birne, die den Raum in schummeriges Halbdunkel tauchte. An den Wänden hingen die obligaten Pin-up-Kalender und über einem Stuhl neben der Tür ein mit Strass besetztes Kleid, daneben ein einzelner, roter Frauenschuh. Das mit Abstand größte Möbelstück im ganzen Zimmer war die halb verspiegelte Bar, an der Ruby nun stand und sich mit zitternden Händen einen Whisky eingoss. Ich sah, wie er Steel die Flasche entgegenhielt und mit dem gefüllten Glas in seiner anderen Hand eine auffordernde Geste machte. Steel schüttelte den Kopf, sah sich einen Moment lang suchend um und eilte dann mit energischen Schritten zu einem kleinen Regal auf der anderen Seite der Tür. Das einzige Utensil, das darauf stand, war ein selbst damals schon veraltet wirkendes Röhrenradio. Als hätte er in einer Situation wie dieser nichts Besseres zu tun, begann Steel am Senderknopf zu drehen. Er wandte mir dabei den Rücken zu, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, aber seine Haltung verriet höchste Konzentration. Und die Blicke, die Ruby ihm zuwarf, taten ein Übriges. Was immer Steel dort tat – er suchte nicht nach einem Sender, der den neuesten Cole-Porter-Song spielte...

»Also, Jack«, begann Steel nach einer Weile. »Sie wissen, warum ich hier bin.« Er sah nicht von seiner Tätigkeit auf, aber in Rubys Gesicht begann es immer stärker zu arbeiten. Er nippte nervös an seinem Glas, aber ich war ziemlich sicher, dass er die Wirkung des Alkohols in diesem Moment gar nicht spürte. Was ging dort drinnen vor?

»Jack?«

»Ja«, murmelte Ruby widerstrebend. »Ich weiß. Aber ich... ich kann es nicht.«