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»Ihr solltet euch allmählich entscheiden«, sagte er. »Ich habe jetzt Dienst – und Bach warten zu lassen wäre nicht unbedingt das Klügste. Ich weiß allerdings noch nicht, wann ich zurückkommen werde. Ihr könnt hier bleiben oder gehen... wenn ihr euch fürs Bleiben entscheidet, werde ich Kimberley untersuchen, sobald ich wieder da bin.«

»Okay«, antwortete ich lahm und enttäuscht, denn eigentlich hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. Es passte mir nicht, dass Hertzog jetzt sofort gehen musste – oder wollte. Bahnte sich da ein erneuter Verrat an oder war es wirklich so, dass er jetzt in Majestic erwartet wurde? Insgeheim hatte ich erwartet, dass er sich sofort um Kim kümmern würde und nicht noch etliche Stunden dazwischen schob.

»Freut mich, dass ihr das auch so seht«, brummte Hertzog, der über meinen Tonfall hinwegging, als ob er ihn gar nicht bemerkt hätte. »Und für was entscheidet ihr euch?«

Ich wechselte einen Blick mit Kim. In ihren Augen glaubte ich die gleiche Unentschlossenheit zu lesen, die auch ich empfand. »Ich bin... bin mir noch nicht ganz sicher.«

Hertzog runzelte die Stirn, verzichtete aber auch diesmal auf einen Kommentar. Er nahm seinen Mantel von der Garderobe und begann sich anzukleiden. »Machen Sie jetzt keinen Fehler, John«, sagte er, während er in seinen Mantel schlüpfte. »Kimberley als vollkommen erschöpft zu bezeichnen wäre reine Schmeichelei – und wenn Sie ehrlich in sich hineinspüren, werden Sie feststellen, dass es Ihnen keineswegs viel besser geht. Sie müssen zur Ruhe kommen, ein paar Stunden wenigstens. Wenn Sie darüber hinweggehen, folgt automatisch der Zusammenbruch.« Er setzte seinen Hut auf und warf mir nochmals einen prüfenden Blick zu. »Und davon hat doch keiner was, oder?«

Die Tür fiel so abrupt hinter ihm ins Schloss, dass ich automatisch zusammenzuckte. Hertzogs Aufbruch erschien mir etwas übereilt und tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Kim und ich sahen ihm nach und zumindest ich starrte die Tür hinter ihm noch endlose Sekunden weiter an. Ich fühlte mich hilflos und elend. Hilflos, weil ich einfach nicht mehr wusste, was ich tun sollte, und elend, weil Bach und die Hive mich mittlerweile so weit gebracht hatten, nicht einmal mehr meinen engsten Freunden vertrauen zu können – und Kim offensichtlich weit genug, nicht einmal mehr mir gänzlich zu vertrauen.

»Warum hast du es mir nie gesagt?«, fragte ich, während ich mich zu ihr umwandte.

»Was?«

»Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, antwortete ich, ohne sie anzusehen und in schärferem Tonfall, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. »Deine Träume. Deine... Visionen. Ich dachte, es wäre alles vorbei.«

»Das war es auch«, antwortete Kim leise. Und nur, um sich mit ihrem nächsten Satz gleich selbst zu widersprechen. »Ich dachte, ich werde allein damit fertig. Und am Anfang war es auch so.«

Sie atmete hörbar ein, aber ich widerstand der Versuchung, mich zu ihr herumzudrehen und sie in die Arme zu schließen. Ich hörte ein leises Klappern und sah aus den Augenwinkeln, dass sie begonnen hatte, mit dem Tablettenfläschchen zu spielen, das Hertzog ihr gegeben hatte.

»Es geht mir wirklich schon ein wenig besser«, sagte sie nach einer Weile.

»Ach?«

»Ich meine es ernst.« Kimberley steckte das Fläschchen mit einer übertrieben heftigen Bewegung in die Manteltasche. »Ich meine... ich bin hundemüde und ich fühle mich, als wäre ich von einem Panzer überrollt worden, aber ich fühle mich trotzdem besser.«

Natürlich sagte sie das nur, um mich zu beruhigen und vielleicht auch sich selbst und ebenso natürlich musste sie wissen, dass ich ihr kein Wort glaubte. Irgendetwas zwischen uns schien plötzlich nicht mehr da zu sein; jenes unsichtbare Band aus absolutem Vertrauen, das unser Verhältnis immer zu etwas Besonderem gemacht hatte. Sie belog mich nur, um mich zu beruhigen. Diese Art kleiner Lügen und Ausflüchte hatte es natürlich auch schon früher zwischen uns hin und wieder einmal gegeben. Und trotzdem war es diesmal anders. Ich konnte das Gefühl nicht wirklich in Worte kleiden, aber es war da und es tat sehr weh.

»Also?«, fragte sie nach einer Weile. »Bleiben wir hier? Ich meine: Vertraust du Hertzog?«

Vertrauen... Das Wort hatte plötzlich einen sonderbaren, sehr bitteren Beigeschmack. Trotzdem nickte ich. »Er hat Recht«, sagte ich. »Wir brauchen ein wenig Ruhe. Ich beginne Fehler zu machen, weißt du, und das ist etwas, das wir uns nicht leisten können. Außerdem kann er dir vielleicht wirklich helfen.«

»Damit?« Kim zog das Fläschchen wieder aus der Tasche. Ich nahm es ihr aus den Fingern, warf einen Blick auf das Etikett und stellte erwartungsgemäß fest, dass mir die lateinische Beschriftung nichts sagte. Vermutlich nur ein harmloses Beruhigungsmittel.

»Auf jeden Fall wird es dir nicht schaden«, sagte ich, während ich es ihr zurückgab. Ich stand auf. »Wir haben keine Wahl, Kim. Irgendjemandem müssen wir vertrauen. Und ich wüsste nicht, wem – außer Carl. Zumindest, bis wir mit Kennedy gesprochen haben.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir während der Beerdigung auch nur auf hundert Fuß an ihn herankommen«, sagte Kim. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß nicht«, fuhr sie fort. Der Klang ihrer Stimme wurde eine Spur spröder. »Das alles gefällt mir überhaupt nicht, John. Ich traue deinem Doktor nicht. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu der Überzeugung, dass wir nie hätten hierher kommen dürfen.«

Ich zuckte mit den Achseln. Nach den sich überschlagenden Ereignissen der letzten Tage kam mir Hertzogs Haus geradezu als ein sicherer Hort vor, als letzte ruhige Insel inmitten einer stürmischen See, die uns schon mehr als einmal fast untergespült hätte. Allein der Gedanke, eine Weile hier zu verweilen und Kraft zu schöpfen, hatte etwas Verlockendes. Wir konnten schließlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf den Beinen bleiben. Wir brauchten beide etwas Ruhe. Und vielleicht brauchte ich noch etwas anderes: das Gefühl, ein Stück Verantwortung abgeben zu können. Ich hatte Hertzog einen Ball zugespielt und jetzt hing es einzig und allein von ihm ab, wie er ihn aufnahm.

»Wenn wir jedem misstrauen, laufen wir uns irgendwann tot«, sagte ich. Ich wollte Kim erklären, warum ich das Risiko für vertretbar hielt, Hertzog um Hilfe zu bitten. Aber meine Worte wären an ihrem Misstrauen sowieso abgeprallt und so ließ ich es lieber.

»Deswegen müssen wir uns doch nicht vorsätzlich in Gefahr begeben«, antwortete Kim ärgerlich.

»Aber das tun wir doch nicht«, beharrte ich. Gleichzeitig fühlte ich ein merkwürdiges Gefühl in mir aufsteigen; eine Unruhe, die weit über das hinausging, was mich in akuten Gefahrensituationen in den Klauen hielt. Hinter meiner Stirn formten sich Gedanken und Gefühle, die so absolut monströs waren, dass ein möglicher Verrat Hertzogs im Vergleich dazu geradezu harmlos erschien. Ich fühlte mich merkwürdig unwirklich, als wäre ich selbst nur ein Beobachter, der zufällig in dieses Dutzendhaus in einer besseren Gegend Washingtons geraten wäre; als würde mich alles nichts wirklich angehen und als wäre ich nur Zeuge einer Situation, auf die ich selber keinen Einfluss hätte.

Kims Augen wurden eine Spur dunkler. »Lass uns von hier verschwinden«, forderte sie mit rauer Stimme. »Je eher wir weg sind, umso besser.«

Ihre Worte erreichten mich nur wie durch Watte. Tage– ja wochenlang hatte mich der Gedanke immer wieder gestreift. Aber, jetzt, hier in diesem Haus, das in meiner Erinnerung so vollständig mit der Austreibung des Ganglions aus Kim verknüpft war, überfiel mich die Angst um sie mit unerbittlicher Kraft. Wenn ich ehrlich war, dann musste ich mir eingestehen, dass ich nicht wusste, wer sie war. Oder was. Vielleicht entglitt sie mir gerade jetzt, vielleicht hatte ich sie aber auch schon längst verloren. Und plötzlich wurde mir klar, dass die Frau, die ich liebte und mit der ich alles zu teilen bereit war, nicht mehr vollkommen sie selbst war. Möglicherweise kämpfte in ihr eine unvorstellbar fremde Macht mit ihrem Geist, mit ihrer Seele um die Vorherrschaft.