»Idiot«, murmelte ich. Dabei meinte ich aber mehr mich als den Truck-Fahrer. Denn ein rascher Blick in den Rückspiegel hatte mich überzeugt, dass außer dem Lastwagen im Augenblick niemand hinter uns war. Wegen eines Hirngespinsts hätte ich beinahe einen Unfall gebaut. Langsam begann ich eine Art Verfolgungswahn zu entwickeln, der letztlich genauso gefährlich sein konnte wie die Gefahr, in der ich und Kim tatsächlich schwebten.
Kimberley verzichtete darauf, mein ungeschicktes Fahrmanöver zu kommentieren. Das war auch besser so. Denn ich brauchte meine ganze Konzentration, um nicht von der Fahrbahn abzukommen. Die huschenden Lichtreflexe und das tiefe Brummen des Motors hatten etwas Einlullendes und ich musste mich mehr als einmal zusammenreißen, um nicht der Trägheit meiner Augenlider nachzugeben. Die Ganglien, Bach, die Ermordung Kennedys und auch dieser merkwürdig knappe Halbsatz Lucys über die kurz entschlossene Reise meines Bruders Ray nach Washington, bevor mein Kleingeld ausgegangen war und ich Genaueres erfahren konnte – all das schrumpfte zu einem unbedeutenden Etwas zusammen angesichts der Erschöpfung, die mich erbarmungslos darauf aufmerksam machte, dass ich am Rande meiner Kraft war.
Obwohl ich erst einmal im Car Paradise gewesen war und mich mehr im Halbschlaf als im Wachzustand befand, funktionierte mein Orientierungssinn erstaunlich gut. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit steuerte ich durch die Straßen Washingtons, die heute weniger belebt waren als gewöhnlich. Das lag wahrscheinlich nicht nur an dem unangenehmen Nieselregen, sondern auch an der Tatsache, dass sich das wichtigste Machtzentrum der westlichen Welt seit der brutalen Ermordung Kennedys noch immer nicht von seinem Schock erholt hatte.
Schließlich erreichten wir die Seitenstraße, in der sich das große, aber heruntergekommene Gebrauchtwagengelände befand. Ein paar bunte Glühbirnenketten tauchten den Hof in einen undefinierbaren Lichterglanz, der vom mühsam aufpolierten Lack Dutzender Gebrauchtwagen zweifelhaften Zustands widergespiegelt wurde. Ein blinkender Lichtpfeil mit dem geschwungenen Schriftzug Car Paradise zeigte auf das lang gestreckte, flache Gebäude, das gleichzeitig als Werkstatt, Büro und Verkaufsraum diente. Das alles machte einen so tristen Eindruck, dass ich unter anderen Voraussetzungen nie meinen Fuß auf dieses Gelände gesetzt hätte. Doch so steuerte ich den Dodge in Richtung des blinkenden Lichtpfeils an der traurigen Parade der Rostlauben vorbei und hielt direkt neben der Eingangstür an.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Kimberley besorgt.
»Aber ja«, antwortete ich mit einer Zuversicht in der Stimme, die ich so nicht empfand. »Hier habe ich mich vor ein paar Wochen mit Robert Kennedy getroffen. Und Nelson T. Bennet hat den Kontakt hergestellt. Wenn er hier ist, wird er uns auch weiterhelfen können.«
»Ich weiß nicht...«, begann Kimberley. Ihre Stimme klang mit einemmal sehr besorgt. Und das auf eine Art, die mich mit einem Schlag hellhörig machte.
»Ja?«, fragte ich als sie nicht weitersprach. Die bunt blinkende Lichtreklame zerriss ihr Gesicht in groteske Momentaufnahmen äußerster Angespanntheit. Irgendetwas hatte sie alarmiert. Der Schleier der Müdigkeit, der mich die Fahrt über gefangen gehalten hatte, war mit einemmal wie weggeblasen.
»Ich... ich bin mir nicht sicher«, sagte sie.
Sie kam nicht dazu, ihren Gedankengang zu beenden. Die nur rund zehn Yard von uns entfernte Tür zum Verkaufsraum des Car Paradise wurde aufgerissen und ein dünnes Kerlchen in Cowboyhut, Westernstiefeln und einem braunen Fransenlederanzug stürmte heraus. Das war ganz eindeutig Nelson T. Bennet. Die Selbstverständlichkeit, mit der er den Cowboy spielte, hätte mir zu anderer Zeit ein Schmunzeln entlockt. Doch so starrte ich ihn mit plötzlichem Misstrauen an. Meine Idee, über diesen eigentümlichen Autofriedhof Kontakt zum Bruder des ermordeten Präsidenten herzustellen, kam mir mit einemmal absurd vor.
Bennets Kopf ruckte zu uns herum und einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke, noch nicht einmal so lang, wie ein Aufblitzen der Leuchtreklame dauerte. Doch es war offensichtlich lang genug, dass er mich erkannte: Seine Augen öffneten sich schreckensgeweitet und das professionelle Lächeln wich schlagartig aus seinem Gesicht.
Beim nächsten Aufblitzen der Leuchtreklame war er schon auf zwei Schritte an unseren Wagen herangekommen. Ich legte automatisch den Rückwärtsgang ein, bereit, bei jeder verdächtigen Bewegung sofort Vollgas zu geben. Es war etwas in Bennets Blick gewesen, das mich erschreckt hatte. Es war nicht unbedingt der Blick eines Menschen, der hive war. Aber es war in jedem Fall der Blick eines Menschen, der bis ins Mark getroffen war.
»Sie sind hier«, keuchte Kimberley. »Es sind Hive hier!«
»Bennet?«, fragte ich rasch.
Kimberley zuckte mit dem Kopf, kaum mehr als ein angedeutetes Kopfschütteln, dann aber nickte sie. »Ich weiß es nicht...«, stammelte sie hilflos.
Da war der schmalschultrige Cowboy mit dem viel zu großen Hut auch schon heran. Er riss ohne zu zögern an der Türklinke. Aber ich hatte sie nicht entriegelt und dachte auch gar nicht daran, das jetzt nachzuholen. Ganz im Gegenteiclass="underline" Mein Fuß spielte mit der Kupplung und der Wagen machte einen kleinen, grotesk anmutenden Satz nach hinten, bevor er wieder zur Ruhe kam.
»Mister Loengard, um Gottes Willen!«, rief Bennet, der der Bewegung des Wagens gefolgt war. Seine Stimme klang durch die geschlossene Fensterscheibe seltsam dumpf und dunkel. »Was wollen Sie hier?«
Sie sind hier, echote Kims Warnung durch meine Gedanken und das konnte alles oder auch nichts bedeuten. Fast erwartete ich, dass Bennet mit der übermenschlichen Kraft der Hive die Autotür mit einem Ruck aus den Angeln reißen und sich mit der nächsten Bewegung auf mich stürzen würde. Aber was, wenn er ungefährlich war, wenn er nach wie vor unsere einzige Chance war, direkt an Robert Kennedy heranzukommen?
»Gehen Sie von der Tür weg«, schrie ich Bennet zu.
Der vorgebliche Gebrauchtwagenverkäufer zuckte zusammen, als sei er geschlagen worden, wich dann aber gehorsam zwei, drei Schritte zurück. Im Licht der rotgrünblauen Glühlampen wirkte sein Gesicht wie eine groteske Karikatur eines Rodeoreiters, der sich zum Clown geschminkt hatte. Bei jedem Aufflackern des grellhellen Leuchtpfeils schlossen sich seine Augen zu einem schmalen Spalt. Trotzdem erkannte ich in ihnen die gleiche Art Angst und Unsicherheit, die auch mich ergriffen hatte.
Ohne den Gang auszukuppeln, kurbelte ich das Fenster einen Spalt runter. »Ich muss unbedingt Mister Robert sprechen«, sagte ich ungeduldig.
»Das geht jetzt nicht«, antwortete Bennet ungehalten. Sein rechtes Augenlid begann unkontrolliert zu zucken. »Mister Robert ist wegen dringender Familienangelegenheiten verhindert. Und Sie sollten sehen, dass Sie von hier verschwinden. Wir haben geschlossen!«
»Kommen Sie, Bennet«, sagte ich nicht weniger gereizt als er. »Es ist verdammt wichtig. Es geht ja gerade um diese... Familienangelegenheiten. Mister Robert wird es Ihnen sehr übel nehmen, wenn Sie ihn jetzt nicht unterrichten.«
»Das geht nicht.« Bennets rechte Hand kroch in die Tasche seines übertrieben wirkenden Fransenanzugs. Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach. Wenn der falsche Cowboy ebenso schnell mit der Waffe war wie seine Vorbilder in den Kinowestern, würde mich das Blech der Autotür nicht schützen. Nicht auf diese geringe Entfernung. »Wir haben...«
Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen. Ein wahrer Hüne stürmte hervor und war mit ein paar wenigen Schritten bei Bennet.
»Was ist los?«, herrschte er den Autoverkäufer mit barscher Stimme an. Als Bennets Kopf herumfuhr, spürte ich, wie sich alles in mir verkrampfte. Der Mann war schnell und bewegte sich trotz seiner Größe mit einer katzengleichen Eleganz. Seine Kleidung wirkte neben der des Autoverkäufers, als käme er aus einer anderen Welt: dunkler Anzug mit hellem Hemd und unauffälliger Krawatte. Dazu ein schwarzer Hut mit grauem Hutband und ein Gesichtsausdruck, der zu glatt wirkte, um eine Emotion zu verraten. Der Mann sah aus wie Elliot Ness in der gleichnamigen Krimireihe, wenn er an der Spitze seiner Unbestechlichen das Lager eines Alkoholhändlers stürmte, um dem mittlerweile längst untergegangenen Gesetz der Prohibition Geltung zu verschaffen. Heute gehörte dieser Schlag Menschen zum FBI oder einer ähnlich staatlichen Organisation. Wenn ich Glück hatte, stand der Hüne auf der Gehaltsliste des Justizministers. Wenn nicht, sollte ich machen, dass ich so schnell wie möglich hier wegkam.