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Sie hatte Recht. Es standen genug Autos auf dem Gelände vom Car Paradise, um eine ganze Armee von Verfolgern mit Fahrzeugen zu versorgen. Und mit Carls mittlerweile bereits angeschlagenem Dodge waren wir wohl kaum in der Lage, einen Vorsprung herauszuholen. Ich warf einen verzweifelten Blick in den Rückspiegel, aber dort war nichts weiter zu erkennen als die kalte Nacht, die sich jetzt ungehindert ins Wageninnere fraß. Ray war wieder verschwunden wie eine Fata Morgana, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in warmer Luft auflöst. Entweder war ich im Begriff, vollkommen verrückt zu werden, oder hier geschah etwas, was einer ausführlichen Erklärung bedurfte.

Ich musste meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zuwenden. Der Nieselregen begann sich zu einem Unwetter auszuwachsen und der Regen prasselte hart und schwer wie Gewehrfeuer auf den Wagen. Obwohl ich durch den dichten Schleier der Wasserkanonade kaum die Straße erkennen konnte, ließ ich die Scheinwerfer ausgeschaltet. Vielleicht war das die einzige Chance, unseren Verfolgern zu entkommen.

Und dann, wie ein Springteufel, der von einer Feder getrieben hochschnellt, tauchte Ray wieder auf: als schwarzer Schatten im Rückspiegel, der genau wusste, was er wollte. »Dort«, rief er. »Fahr dort in die Einfahrt.«

Ich reagierte fast zu spät. Die Einfahrt, auf die er mich aufmerksam gemacht hatte, war nichts als ein dunkler Schlund wie der eines Wals, der mit einemmal ein ganzes Fischerboot verschlucken konnte. Ich trat so hart auf die Bremse, dass das Heck des Dodge wieder ausbrach. Aber erneut ließ sich der alte Wagen brav in die Spur und anschließend in die Abzweigung zwingen. Mit einem letzten Satz schoss er auf eine kiesbedeckte Auffahrt, die in einer Kurve auf einen Schuppen zuführte; viel zu schnell, um noch rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Ich kam mir vor wie der Pilot eines Flugzeugs, der mit zu hoher Geschwindigkeit und zu spät auf der Landebahn aufgesetzt hatte und nun verzweifelt darum kämpfte, die Maschine vor der letzten Begrenzung zum Halten zu bringen. Die Reifen des Dodge quietschten protestierend und der nasse Kies spritzte links und rechts davon. Mit einem üblen Geräusch kam der Wagen schließlich zum Stillstand, kaum einen Meter von dem dunklen Schatten des Schuppens entfernt.

Der Motor erstarb mit einem Stottern und ein paar Sekunden lang war nichts weiter zu hören als das harte Trommeln des Regens auf dem zwanzig Jahre alten Blech des Dodge. Doch dann mischte sich in dieses Geräusch etwas, auf das ich schon die ganze Zeit insgeheim gewartet hatte: das typische dumpfe Brummen langhubiger Straßenkreuzer, die ungesund hoch gedreht wurden. Im Rückspiegel sausten ein, zwei Lichtpunkte hinter uns vorbei, dann folgte das fast schmerzhaft laute Quietschen von Bremsen. Mein Brustkorb verkrampfte sich. Dann hörte ich, wie die Wagen wieder beschleunigten. Ich konnte mir lebhaft vorstellen wie die beiden Fahrer die schweren Straßenkreuzer zurück zur Einfahrt schießen ließen, während ihre Komplizen ihre Waffen entsicherten und mit zusammengekniffenen Gesichtern darauf warteten, dass sie freies Schussfeld bekamen. Offensichtlich war die Idee mit der Einfahrt doch nicht so gut gewesen. Meine Hand tastete nach der Kims.

»Um Gottes willen«, flüsterte sie.

Uns war klar, dass wir keine Chance mehr hatten, wenn sie uns jetzt und hier stellten. Bevor wir auch nur den Wagen verlassen konnten, würden sie auch schon da sein. Und auch mit dem Wagen hatten wir keine Chance, nicht gegen rücksichtslose Männer in modernen Fahrzeugen. Trotzdem ließ ich Kims Hand los und tastete nach dem Zündschlüssel. Ich würde es ihnen nicht leicht machen.

»Oh, Shit«, hörte ich Rays Stimme aus dem Fond des Wagens. »Das war knapp.«

Im ersten Moment verstand ich ihn nicht. Doch dann begriff ich: Die Wagen hatten wieder beschleunigt, aber nicht auf uns zu, sondern weg von uns. Das Brummen der Motoren war nur noch einen Moment zu hören, dann erstarb es und es blieb nichts weiter zurück als das harte Prasseln des Regens.

Ich drehte mich nach hinten um, auf alles gefasst und doch nicht darauf, wirklich und wahrhaftig meinen Bruder hinter mir zu sehen. »Hallo, John«, sagte er. Die Stimme klang seltsam vertraut und löste eine tiefe Resonanz in mir aus. Es konnte kein Zweifel bestehen: Das war er!

»Hallo, Ray«, krächzte ich.

»Hallo, John«, wiederholte er ruhig. »Schön, dich wieder zu sehen. Allerdings sind die Umstände nicht ganz nach meinem Geschmack.«

Ich wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte mir. »Was machst du... denn hier...«, brachte ich schließlich mühsam hervor.

»Meinst du nicht, dass es Zeit wäre, sich aus dem Staub zu machen?«, fragte Ray, ohne auf meine Frage einzugehen und in einem Tonfall, als wäre es vollkommen selbstverständlich, sich plötzlich hier mit uns in dem alten, zusammengeschossenen Dodge des Majestic-Arztes Dr. Hertzog zu befinden.

»Wenn sie merken, dass wir sie geleimt haben, kommen sie mit Sicherheit wieder. Und dann sehen wir alt aus.«

»Eh, ja«, machte ich. Natürlich hatte er Recht. Aber es war ein bisschen viel; hier wie ein Gespenst zu erscheinen, keine Erklärung abzugeben und mir stattdessen in überheblichem Ton Anordnungen geben zu wollen. Ich hätte nicht überraschter sein können, wenn plötzlich Bach hinter mit gesessen und mir seinen Zigarrenqualm ins Genick geblasen hätte. »Wo kommst du her, Ray?«, fragte ich und ärgerte mich gleichzeitig über den kraftlosen Ausdruck in meiner Stimme.

»Das spielt doch im Moment keine Rolle«, antwortete Ray ärgerlich. »Ich bin da, weil ich euch helfen will. Aber wenn du nicht bald fährst, dürfte es bei dem Versuch bleiben.«

»Wenn wir wie die Wilden einfach losfahren, könnten wir unseren Verfolgern genauso vor die Flinte laufen«, entgegnete ich schroff. Und trotz meiner grenzenlosen Überraschung war sie schlagartig wieder präsent: die alte Hassliebe zwischen Brüdern, das Gerangel um die Führungsposition wie unter den Jungtieren eines Wolfsrudels, die letztlich nie ganz geklärt worden war. Nach all der Zeit hatte ich fast vergessen, dass es außer dem Zusammenhalt der Loengard-Kinder auch handfeste Zwistigkeiten gegeben hatte. Und das durchaus auch im wortwörtlichen Sinne.

»Das wird mir jetzt alles ein bisschen zu viel«, unterbrach mich Kim. »Es muss mal irgendwann Schluss sein.« Ihre Stimme klang seltsam schwach. Aber da war noch ein anderer Unterton in ihr, ein Klang, als würde sie in eine unendliche Tiefe fallen. Vielleicht bildete ich mir ihren Tonfall nur ein, sicherlich aber nicht das dahinter stehende Gefühl. »Ich kann nicht mehr und ich will nicht. Bring mich hier raus, John. Wir haben es vermasselt und ich wüsste auch nicht, was wir jetzt noch tun könnten.«

Meine Hand tastete nach ihr, aber sie schob sie ungeduldig beiseite. »Verstehst du nicht?«, fragte Kim verzweifelt. »Ich kann nicht mehr! Es ist aus. Es war vielleicht schon in dem Moment aus, als sie Kennedy erschossen hatten.«

Ich starrte in den Regen hinaus, in die kalte Dunkelheit, die ihre Finger bis ins Wageninnere ausstreckte – und plötzlich war es mir egal, wie und warum Ray aufgetaucht war. Es war ein ungemütlicher Abend, ein typischer Novembertag, den man besser zu Hause am Kaminfeuer verbrachte statt in einem alten Auto mit einer frischen Beule am rechten Kotflügel, einer zerschossenen Heckscheibe und mehreren Einschusslöchern, von denen ich nur hoffen konnte, dass sie nicht an lebenswichtigen Stellen saßen. »In einem Monat ist Weihnachten«, sagte ich und hatte meinen Bruder schon halb vergessen, der hinter uns im Fond das Wagens war und Zeuge unserer intimen Unterhaltung wurde – aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. »Ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass wir es in Ruhe und Frieden in unserer Wohnung hätten verbringen können.« Um uns vielleicht über so ganz profane Dinge wie unsere Hochzeit oder um die Frage nach Kindern, Karriere und Eigenheim zu streiten, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Ach, John«, sagte Kimberley nur. In diesem Moment war sie mir gleichzeitig so nah und so schmerzhaft weit entfernt, weiter vielleicht sogar als bei unserer ersten Begegnung. Damals hatte uns die ganze Welt offen gestanden und die kribbelnde Aussicht auf ein spannendes Leben hatte uns optimistisch und lachend in die Arme getrieben. Doch was war jetzt davon übrig geblieben?