Ich konnte mich kaum noch an unsere Wohnung erinnern. Sie kam mir so weit entfernt vor wie das Klassenzimmer meiner ersten Schuljahre. Statt dessen hatte ich wieder das Zeitungsbild vor Augen, dieses berühmte Foto mit der großen offenen Limousine, das in grober Auflösung Kennedy zeigte, bereits tödlich getroffen und doch noch aufrecht stehend. Und hinter ihm der Leibwächter, der sich wenige Augenblicke später schützend und doch vollkommen sinnlos über seinen Präsidenten werfen würde. Nein, es war noch lange nicht vorbei.
»Wir sollten sehen, dass wir hier erst einmal wegkommen«, mischte sich Ray wieder ein. »Es kann sein, dass sie noch einmal zurückkommen, wenn sie uns auf der Hauptstraße nicht finden.«
»Und wohin sollen wir?«, fragte Kim.
»Ich... ich denke«, begann ich vorsichtig, wobei ich sorgfältig vermied, in ihre Richtung zu blicken, »dass wir noch eine Chance haben. Du hattest den Vorschlag gemacht, es über das Weiße Haus zu versuchen. Tu das...«
»Aber...«
»Aber wir haben keine Chance mehr?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn wir den Kopf in den Sand stecken, werden wir irgendwann mit den Zähnen knirschen. Nein. Wenn uns Bach jetzt erwischt, wäre das vielleicht noch das kleinere Übel. Irgendwann werden sie uns erwischen. Steel und Konsorten. Und die werden nicht an einem Gespräch interessiert sein. Sie werden uns sofort erschießen.«
»Wir könnten untertauchen...«
»Uns vor diesen... diesen Dingern verstecken?«, unterbrach ich sie abermals. »Während sie nach und nach alle wichtigen Leute übernehmen? Mach dich nicht lächerlich. Sie werden uns irgendwann aufspüren. Und wir werden in der Zwischenzeit dahinvegetieren, auf der Flucht und ohne Hoffnung. Nein.« Ich presste die Zähne zusammen und verschränkte die Hände einen Moment vor dem Gesicht, so wie man sich nach einer langen Fahrt räkelt. Aber in der Bewegung war nichts Entspannendes – ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich angespannt und meine Schultern waren hart und verkrampft. Trotzdem spürte ich fast keine Erregung in mir; es war eine eiskalte Entschlossenheit, die mich ergriffen hatte. Ähnlich mussten sich Mitglieder eines Todeskommandos vor dem Einsatz fühlen. Vielleicht war das der Moment, in dem ich zum erstenmal wirklich tief in meinem Inneren begriff, dass mein und Kims Leben keinen Pfifferling mehr wert war. Wir waren Vogelfreie, dazu verdammt, jedem zu misstrauen und dabei doch im Innersten zu wissen, dass es keine wirkliche Hoffnung mehr gab.
»Nicht dass ich euch eure Unterhaltung nicht gönnen will«, mischte sich Ray ein. »Aber dafür scheint mir jetzt weder der rechte Augenblick noch der rechte Ort zu sein.«
»Wir brauchen doch zumindest eine Pause«, sagte Kimberley tonlos, als wäre mein Bruder überhaupt nicht da. Die Teilnahmslosigkeit in ihrer Stimme erschreckte mich. »Wir können doch nicht ohne Unterbrechung allein gegen den Rest der Welt kämpfen.«
»Es ist nicht der Rest der Welt«, sagte ich so sanft wie möglich. Ich wartete auf eine Entgegnung von Kim, suchte, als sie stumm blieb, im Rückspiegel nach einer Spur, einem Hinweis, ob wir hier noch in Sicherheit waren oder nicht. Dabei begegnete ich Rays Blick.
»Ich will ja nicht unhöflich sein«, sagte er spöttisch. »Aber könntet ihr eure Turtelei vielleicht ein anderes Mal fortsetzen?«
»Was willst du überhaupt?«, fragte ich grob. »Schneist hier rein wie der Weihnachtsmann und willst gleich wieder das Kommando übernehmen, ganz so wie in alten Zeiten, was, Ray?«
Einen Moment lang herrschte eisiges Schweigen. Kims Kopf bewegte sich langsam nach oben und dann drehte sie sich um. »Hallo, Ray«, sagte sie. »Ich will jetzt gar nicht wissen, wie du hierher gekommen bist. Es ist in jedem Fall schön, dich hier zu sehen.« Sie unterbrach sich mit einem Laut, der wohl ein kurzes Auflachen sein sollte, aber eher ein Schluchzen war. »Aber es ist ein ungünstiger Moment, verstehst du? Vielleicht hast du ja eine Idee, wo wir in dieser Nacht etwas zur Ruhe kommen könnten?«
»Ich habe auch eine Idee...«, sagte ich.
»Wir sollten auf alle Fälle erst einmal losfahren«, unterbrach mich Ray.
»Verdammt noch mal, lass mich zumindest ausreden!«, herrschte ich ihn an und ärgerte mich gleichzeitig darüber, dass ich so impulsiv reagierte. Aber meine Nerven waren mittlerweile so straff gespannt wie Klavierdrähte und ich konnte es beim besten Willen nicht vertragen, wenn mir jemand Befehle geben wollte.
Es war Kim, die die Situation rettete. »Er hat Recht, John«, sagte sie ruhig und in so selbstverständlichem Tonfall, als sei das Auftauchen meines Bruders unter diesen merkwürdigen Umständen vollkommen normal. »Lass uns fahren. Irgendwohin, wo wir in Ruhe miteinander reden können.«
Ich starrte ein paar Sekunden wortlos in die Nacht hinaus, in das allumfassende, feuchte Dunkel, das gleichermaßen unbehaglich wie auch beruhigend wirkte: beruhigend, weil es die törichte Illusion vermittelte, dass sich niemand freiwillig bei diesem Wetter nach draußen begeben würde und wir somit sicher und geschützt wie in einer geheimen Höhle saßen, von der niemand etwas wusste. Kein Wunder, dass mir ein solcher Vergleich einfiel, denn eine solche Höhle hatte es tatsächlich gegeben, in meinem und Rays Leben, eine Höhle, die vielleicht vor ein paar hundert Jahren den Indianern bekannt war und davor Bären und Schakalen, die aber niemals vom Weißen Mann in Besitz genommen worden war. Als wir sie als Kinder entdeckt hatten, hatten wir uns wahrscheinlich nicht weniger stolz gefühlt als Christoph Kolumbus nach der Entdeckung Amerikas.
»Nun fahr schon«, sagte Ray. In seiner Stimme klang eine Geringschätzung mit, die ich schon fast vergessen geglaubt hatte. Warum musste er sich nur immer so aufspielen?
Trotzdem brachte seine Art, Anordnungen, ja, regelrechte Befehle zu erteilen, so viel Normalität mit ins Spiel, dass ich meine Lethargie abschütteln konnte und den Motor startete. »Hast du einen besonderen Wunsch, wo du hinwillst?«, fragte ich in einem gehässigen Tonfall, meiner Waffe gegen seine Art, sich mit seiner großsprecherischen Art über mich erheben zu wollen.
»In der Tat, Bruderherz«, sagte er ernsthaft und in so versöhnlichem Ton, dass ich meine unterschwellige Provokation sofort wieder bedauerte. »Ich habe in der Nähe der Zweihundertfünfundneunzigsten ein kleines Zimmer gemietet. Dort sollten wir ungestört sein.«
Die Route 295 verläuft parallel zum nordöstlichen Arm des Potomac River, einer jener mächtigen Flussarme Nordamerikas, die seit undenklichen Zeiten das Wasser kanadischer Seen in den Nordatlantik spülen. Sie durchschneidet damit parallel zum Flussarm die Stadt vom Südwesten in nördliche Richtung, doch der stellenweise über eine Meile breite Hauptarm verzweigt sich immer schmaler werdend genau in die entgegengesetzte Richtung, in Richtung Pennsylvania und kanadischer Seenplatte. Washington hatte damit seinen schnellen Aufschwung nicht zuletzt den Wasserwegen zu verdanken, die es einst zu einem strategisch wichtigen Punkt hatten werden lassen. Nur zwanzig Meilen vom östlichen Stadtrand entfernt erstreckt sich die Chesapeake Bay, so groß wie der deutsche Bodensee und im Süden vierzig Meilen breit aufgerissen in den Nordatlantik ragend: eine ideale Verbindung zu den Weltmeeren. Es hatte eine Zeit gegeben, als ich mich für die Erfolgsstory der Hauptstadt der wohl mächtigsten Nation der Welt interessiert hatte, beginnend mit Pierre Charles L’Enfant, der 1791 Washington inmitten der Wildnis so großzügig angelegt hatte, dass seine Zeitgenossen ihn, gelinde gesagt, für größenwahnsinnig gehalten hatten. Der Größenwahn hatte sich offensichtlich über die Jahrhunderte in der Regierungsstadt gehalten. Eines seiner jüngsten Opfer war Frank Bach. Er und Pierre Charles L’Enfant hätten sich wahrscheinlich blendend verstanden.