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Doch dieser bittere Vergleich hielt sich nur flüchtig in meinem Kopf. Dafür spukte mir viel zu sehr die Geschichte im Kopf herum, die mir mein Bruder aufgetischt hatte. Sie klang, gelinde gesagt, dürftig. Angeblich hatte er Lucy angerufen, kurz nachdem ich mit meiner Schwester telefoniert hatte. In dem Gespräch hatte er erfahren, wohin wir unterwegs waren, und sich dann ebenfalls sofort zum Car Paradise begeben, wo er gerade noch rechtzeitig zu unserer Flucht ankam. Als ich den Chevy gerammt hatte und die Tür unseres Dodge aufgesprungen war, hatte er die Gunst der Stunde genutzt und war in unser Auto gesprungen. Behauptete er.

Ich nahm ihm die Geschichte nicht ganz ab. Während wir Richtung Innenstadt fuhren, die Rhode Island Avenue hinab, die nach einer Abbiegung am National Museum of Women in the Arts auf die berühmte Route 66 führen würde, versuchte ich krampfhaft, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es war alles ein bisschen viel. Rays plötzliches Auftauchen beruhigte mich ganz und gar nicht. Das Misstrauen, mit dem ich seine knappe Erklärung aufgenommen hatte, mochte man meinetwegen für krankhaft erachten; nichtsdestotrotz war es da und verlangte danach, dass ich Rays Geschichte nicht einfach stillschweigend akzeptierte. Trotzdem: Mochte es auch noch so unglaublich sein – wie sonst hätte er plötzlich im Car Paradise auftauchen können?

»Wir müssen da vorne links, in Richtung Stanton Park«, unterbrach Ray meine düsteren Gedanken. Er selbst hatte das, was Kimberley ihm berichtet hatte, erstaunlich ruhig aufgenommen. Mehr noch, er zeigte sich über das meiste bereits informiert. Und das, so fand ich, war das Erstaunlichste von alledem.

Wir waren mittlerweile auf Höhe des nur noch rund eine Meile entfernten Weißen Hauses angekommen, diesem Nabel und wichtigsten Kreuzpunkt Washingtons und damit der gesamten Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der ganzen westlichen Welt. Ich kannte diese Gegend besser als viele meiner ehemaligen Kollegen aus den beengten Büroetagen des Weißen Hauses, die Bannmeile mit ihren sorgfältig angelegten Parks, den oft sonnendurchfluteten breiten Passagen und den aufwändig gestalteten Monumenten für die Hand voll staatstragender Männer wie George Washington und Abraham Lincoln. Meine Kenntnisse verdankte ich nicht zuletzt der Tatsache, dass sich unsere Wohnung in unmittelbarer Nähe des Weißen Hauses befand – unser erster gemeinsamer Zufluchtsort vor den Wirrnissen des Alltags, den wir jetzt unbedingt meiden mussten, da er zweifelsohne von Bachs Männern überwacht wurde. Was wäre gewesen, wenn dieser ganze Mist mit den Ganglien, den Grauen und damit auch mit Majestic nie passiert wäre? Hätten wir dann jetzt vor dem Fernseher gesessen oder aber am Küchentisch, um aufgeregt das Tagesgeschehen und unsere Zukunft zu besprechen? Hätte uns die Normalität eines trotz aller Nähe zum Zentrum der Macht recht träge dahinlaufenden Bürokratenlebens mittlerweile erdrückt und vielleicht sogar entzweit?

Ich wusste es nicht. Es war auch müßig, darüber nachzudenken. »Wieso bist du über alles so gut im Bilde?«, fragte ich stattdessen laut.

»Das habe ich dir doch schon erklärt«, sagte Ray in erstaunlich geduldigem Tonfall. »Dieser Polizist, von dem du sagst, es könnte auch ein Majestic-Agent gewesen sein – er tauchte auf und stellte tausend Fragen. Er hat mich regelrecht verfolgt, blieb mir tagelang auf den Fersen und löcherte mich immer wieder mit Fragen. Und das hat mich neugierig gemacht.«

»Wie genau sah er aus?«

Ray seufzte. »Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte er dann gepresst. Seine Stimme ging fast im dunklen Dröhnen des niedertourig laufenden alten Motors des Dodge unter, der sicherlich schon seine zweihunderttausend Meilen hinter sich hatte und gemeinsam mit Ray dagegen zu protestieren schien, dass ich einfach keine Ruhe geben konnte. »Du stellst auch immer wieder die gleichen Fragen, genau wie dieser Bulle. Was ist bloß los mit dir? So kenne ich dich gar nicht.«

Natürlich kannte er mich nicht so. Im letzten Jahr hatten sich die Ereignisse so überstürzt, dass mein ganzes Inneres durcheinander gewirbelt worden war. »Wenn er dir Fragen gestellt hat, bedeutet das ja nicht, dass er dir auch gleich die ganze Majestic-Geschichte auf die Nase gebunden hat.«

»Herrgott.« Ray seufzte abermals. »Ich habe nachgeforscht. Glaubst du eigentlich, du bist der Einzige in unserer Familie, der in der Lage ist, zwei und zwei zusammenzuzählen? Es gab ein paar mehr oder weniger klare Hinweise, aus denen ich den Schluss zog, dass ich dir helfen könnte – und müsste. Und Washington schien mir der geeignete Ort zu sein, dich aufzuspüren...«

Kimberley hatte unser gereiztes Gespräch schweigend verfolgt, vielleicht zu müde und zu erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage, als dass sie sich daran wirklich hätte beteiligen können und wollen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte ihr auch keine große Beachtung geschenkt, nicht nachdem mein Bruder so dramatisch in unser Leben geplatzt war und offenbar willens schien, das Kommando zu übernehmen, ganz so, wie er es als Heranwachsender immer versucht hatte. Doch jetzt begann Kim plötzlich zu stöhnen, ein langer klagender Laut, der im dumpfen Brummen des gleichmäßigen Motorengeräuschs fast unterging.

»Was hat sie?«, fragte Ray alarmiert. Ich konnte sein besorgtes Stirnrunzeln fast spüren, diese ungleichnamige Art, das Gesicht zu verziehen, gleichzeitig Anteilnahme und Hochmut auszudrücken.

Ich warf einen besorgten Blick auf Kim. Das diffuse Licht der Straßenlampen schien beim Vorbeifahren auf– und abzuschwellen, ein merkwürdig unwirklicher und doch gleichzeitig einschläfernder Rhythmus, der den Innenraum des Wagens nur dürftig ausleuchtete. Und doch reichte das Licht aus, um zu erkennen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Kims Gesicht wirkte gleichzeitig versteinert und gelähmt wie auch in fließender Bewegung. Etwas schien mit ihrer Gesichtshaut nicht zu stimmen; sie bewegte sich, so, als ob sich jeder einzelne ihrer Gesichtsmuskeln in zuckenden Krämpfen befand – oder als ob sie mit winzig kleinen Bewegungen von innen aus heraus massiert würde!

Es war, als griffe eine eiskalte Hand mein Herz. Ich weiß nicht, was mir in diesem Moment alles an Gedanken durch den Kopf schoss, aber ich werde nie den Schreck vergessen, den ich bei diesem Anblick empfand. Es musste ein ähnliches Gefühl sein wie das, von dem mir mein alter Freund Walter vor ein paar Jahren mit stockender und gebrochener Stimme erzählt hatte: Als er eines Abends mit seinem klapprigen Ford T die Landstraße hinabgefahren war und schon von ferne die blinkenden Lichter gesehen hatte, die auf eine Straßensperre hindeuteten. Eine merkwürdig kalte Vorahnung hatte ihn ergriffen, als er näher gefahren und seinen Ford hinter einem Streifenwagen abgestellt hatte. Er hatte die Szene nur verschwommen erkannt, den Lastwagen, der in den Vordergraben gerutscht war, sodass seine Hinterräder grotesk über der Straße hingen, und die wenigen Menschen, die vor einer mit einer alten Pferdedecke bedeckten, am Straßenrand liegenden Gestalt standen, leise vor sich hinmurmelten und ihn mit stumpfen, betroffenen Blicken ansahen, wortlos einen Schritt zur Seite wichen, als er an ihnen vorbeiging, sich bückte und die Pferdedecke ein Stück von dem Unfallopfer zog. Es war sein jüngerer Bruder Peter, ganze fünfzehn Jahre alt und an diesem kalten Septemberabend von einem Lastwagen überfahren und getötet worden.

»Da vorne, noch vor dem Stanton Park links«, sagte Ray, der in Ermangelung meiner Antwort wohl davon ausgegangen war, dass alles in Ordnung war. Seine Stimme erreichte mich wie durch Watte. Und doch gehorchte ich ganz automatisch. Ohne den Blinker zu setzen und ohne auf Gegenverkehr zu achten, zog ich den Wagen in die Seitenstraße, die uns zu Rays Wohnung führen sollte. Hinter uns quietschte etwas und irgendjemand hupte so laut, wie es in meiner Vorstellung nur Ozeandampfern zustand. Es war mir vollkommen egal, ja, ich nahm es nicht einmal richtig wahr. Stattdessen steuerte ich den Wagen an den Straßenrand und brachte ihn abrupt zum Stehen.