»Warum halten wir?«, fragte Kim.
Die Nebenstraße war unbeleuchtet und die kalte feuchte Nacht dämpfte das Licht von der Fifth Street so stark, dass es im Auto fast vollständig dunkel war. Ich konnte Kims Gesicht nicht erkennen, und doch schien es mir, als wäre da noch immer diese unheimliche Kraft am Werk, die aus ihrem Inneren heraus etwas Unvorstellbares mit ihr anstellte. Ich hatte noch nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen, aber mir war klar, dass es nur eine Deutung geben konnte. Alles, was ich hoffte, von ganzem Herzen vom Schicksal erflehte, war, dass ich mich getäuscht hatte, dass ich einer Täuschung meiner überreizten Nerven erlegen war.
»Stimmt etwas nicht, John?«, fragte Kim. Ihre Stimme klang so wie immer. Fast. Aber es schien mir, als ob etwas Fremdes darin mitschwang, eine Kälte, die ich nicht an ihr kannte und auch nie an ihr erlebt hatte. »Wenn du zu müde bist, dann lass doch deinen Bruder fahren. Er kennt den Weg zu seiner Wohnung sowieso besser.«
»Das wäre wohl in der Tat besser«, mischte sich Ray ein. »Falls du es nicht gemerkt haben solltest: Du hast eben einem 12-Tonner die Vorfahrt genommen. Wenn unsere Schutzengel nicht zusammengearbeitet hätten, lägen wir jetzt unter ein paar Tonnen Stahl begraben.«
Ich wollte antworten, aber meine Stimmbänder fühlten sich so ausgetrocknet an, als ob ich tagelang durch die Sahara marschiert und tonnenweise Wüstensand geschluckt hätte. Meiner Kehle entrang sich ein Laut, der kaum mehr zu verstehen sein konnte. Ich schluckte krampfhaft, räusperte mich und versuchte es dann noch einmal. »Wie... wie fühlst du dich, Liebling?«
»Warum fragst du?«, wollte Kim wissen. Diesmal stimmte irgendetwas mit ihrer Stimme nicht, ganz eindeutig, und es war mehr als nur eine ungewohnte Kälte, die ich herauszuhören glaubte. Ich wusste nicht, ob es an dem prasselnden Regen lag, dass ich sie nur undeutlich hören konnte; ihre Stimme kam mir jedenfalls schwächer vor als normal und dabei so fremd im Klang, dass ich sie nicht erkannt hätte, hätte ich nicht gewusst, dass sie neben mir saß.
»Weil... weil...«, stammelte ich hilflos.
»Wenn du es genau wissen willst: Ich bin fix und fertig«, unterbrach mich Kimberley im gleichen fremden Tonfall. Jetzt wusste ich auch, was nicht stimmte: Es lag an der eigentümlichen Betonung, die sie so fremd klingen ließ. Wie verfremdet durch eine aufwändige Elektronik, wie sie teilweise bei den Anfang der sechziger Jahre immer noch populären Hörspielen im Radio eingesetzt wurde. »Und ich habe jetzt absolut keine Lust dazu, hier auf der Straße zu stehen und mit dir zu diskutieren. Lass Ray ans Steuer, damit wir endlich weiterkommen.«
Die Kälte, die durch die geborstene Heckscheibe ins Innere kroch, war nicht das Einzige, was mir einen Schauder über den Rücken jagte. Es war etwas ganz anderes, das Gefühl, dass etwas Unvorstellbares geschah, dass ich Zeuge eines unglaublichen Vorfalls wurde – oder ganz einfach die Nerven verlor. Was war mit mir los? War das die Ankündigung eines Nervenzusammenbruchs oder war irgendetwas in Kim darauf aus, die Kontrolle über sie zu übernehmen? Hatte mir das Geflackere der Straßenbeleuchtung einen Streich gespielt oder hatte es wirklich etwas gegeben, das in mir das gleiche Entsetzen rechtfertigte wie bei Walter, als er auf den mit einer Pferdedecke notdürftig bedeckten Leib seines toten Bruders zugegangen war?
Ich beschloss, es herauszufinden. Dabei rangen die widerstrebendsten Gefühle in mir, das Verlangen, Kim anzuherrschen und zu fragen, was denn nur eigentlich los sei, und das Gefühl, dass es im Moment besser war, einfach ihrem Wunsch nachzukommen. Aber ich hatte keine Lust, mir das Steuer aus der Hand nehmen zu lassen, und das im wortwörtlichen Sinne.
»Was ist nun?«, fragte Ray. »Mit jeder Sekunde, die wir hier rumstehen, sinkt unsere Chance, mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen.«
»Du hast Recht«, sagte ich und nickte mit einer Entschlossenheit in die Dunkelheit hinein, die ich so nicht empfand. »Aber ich fahre. Das ist doch hier richtig, oder?«
»Ja, die Richtung stimmt.« Rays Stimme klang mühsam beherrscht. Wie ich diesen Tonfall hasste, mit dem er immer und immer wieder versucht hatte, Einfluss auf mein Leben zu gewinnen. Und doch war es im Augenblick vollkommen nebensächlich.
Ich startete den Wagen und fuhr auf Rays Geheiß hin weiter nach Osten, in eine Gegend, die mir kaum bekannt war und mich eher an New York als an Washington erinnerte, so urban und gleichzeitig heruntergekommen wirkte sie. Dazu mochte der Regen beitragen: Der Niederschlag war mittlerweile in feines Nieseln und einen nach unten drückenden Nebel übergegangen, gegen das die Scheibenwischer verzweifelt ankämpften. Die Schlieren auf der Windschutzscheibe machten es fast unmöglich, die Fahrbahn zu erkennen. Viel mehr als das vom Scheinwerferlicht reflektierte glitzernde Funkeln der feuchten, von den dunklen Silhouetten trister Miethäuser eingerahmten Straße war nicht zu erkennen, aber das war es nicht, was mir Sorgen machte. Um diese Zeit und bei diesem Wetter war eine solche Wohngegend zweiter Klasse sowieso so gut wie leer gefegt und die Gefahr, einen Fußgänger zu übersehen, entsprechend gering. Nein, was mir Sorgen machte war die rapide Veränderung von Kims Zustand, die mich das Schlimmste befürchten ließ.
Nach ein paar Minuten hatte ich vollständig die Orientierung verloren und wunderte mich darüber, mit welcher Sicherheit Ray die Richtung vorgab. Er war meines Wissens früher noch nie in Washington gewesen und konnte auch jetzt erst seit kurzem in der Stadt sein; dennoch kannte er sich hervorragend hier aus. Schließlich dirigierte er mich in eine schmale Seitenstraße, in der auf Anhieb ein Parkplatz frei war. Bei diesem Wetter, bei dem jeder vernünftige Mensch zu Hause blieb, ein wahrer Glücksfall, den ich allerdings nicht richtig würdigen konnte. Schließlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich das Beste war, gemeinsam mit Kim Rays Wohnung aufzusuchen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, bei Dr. Hertzog auszuharren und darauf zu hoffen, dass er ihr weiterhelfen konnte.
Trotzdem stieg ich wortlos aus dem Wagen und folgte Ray und Kim, die ineinander eingehakt mit schnellen Schritten auf den Eingang eines vierstöckigen Hauses zusteuerten. Ich hatte es so eilig, den beiden zu folgen, dass ich darauf verzichtete, den alten Dodge abzuschließen. So, wie der Wagen aussah, würde ihn selbst hier niemand anrühren und wenn: Es war mir in diesem Moment vollkommen egal.
Der dunkle, nasse Himmel ließ die alten Häuser sicherlich schäbiger und unansehnlicher aussehen, als sie bei Sonnenschein gewirkt hätten. Vielleicht war sogar der leichte, aber durchdringende Gestank des Mülls nur bei einem solchen Wetter wahrzunehmen. Dennoch: Es gab bessere Gegenden, vor allem in Washington, das seiner Würde als Hauptstadt der Vereinigten Staaten in allen Punkten gerecht zu werden versuchte. Anders als in den üblichen amerikanischen Städten dominierten gut gepflegte Gebäude im Stil der italienischen Renaissance oder der europäischen Klassik, helle Bauten mit Säulen, Erkern und Verzierungen inmitten sorgfältig angelegter Grünflächen und Gärten, wie sie vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren und auch spätere Bauherren noch entsprechend inspiriert hatten. Sicherlich war nicht alles aus Marmor und nicht alles im besten Zustand; Reihenhaussiedlungen typisch amerikanischer Art mit preiswerten Holzhäusern, die auf uneingezäunten, nur sparsam bepflanzten Grundstücken standen, prägten in langweiliger Gleichförmigkeit ganze Stadtviertel. Doch ausgewachsene Wolkenkratzer gab es in Washington überhaupt nicht, höchstens Miethäuser mit wenigen Stockwerken – doch auch diese konnten unansehnlich und schmuddelig aussehen.
In genau so einem Haus wohnte Ray.
Ray hatte bereits die unverschlossene Haustür aufgestoßen und Kim mit einer raschen Geste an sich vorbei in die Trockenheit gestoßen. Als ich ihn erreichte, schob er auch mich in den Hausflur, einen düsteren, nur spärlich beleuchteten Treppenschacht, der überhaupt nichts Einladendes hatte. Das Licht stammte von einer Glühbirne, die am Draht von der Decke hing; die Zuleitung und der Drahtkäfig um die Birne’ schwankten ein wenig; der ganze Hausflur war in ein flackerndes Licht getaucht, in dem ich Kim wie einen verschwommenen Schemen wahrnahm. Ich musste ein paarmal blinzeln, bevor ich meine Umgebung genauer erkennen konnte. Es wurde Zeit, dass ich etwas gegen meinen Erschöpfungszustand unternahm. Mich zum Beispiel ein paar Stunden aufs Ohr legte. Ansonsten bedurfte es keines Bachs und keiner Grauen, um mich fertig zu machen.