»Da hat schon wieder jemand die Haustür aufgelassen«, murmelte Ray, während er vor mir die knarrende Holztreppe hinaufstieg. Ich erkannte, dass Kim bereits vor einer Tür im ersten Stock stehen geblieben war, auf uns wartend. Ich suchte ihren Blick, aber sie starrte an mir vorbei ins Nichts, gedankenverloren vielleicht oder auch ausweichend, weil sie im Grunde genommen im Moment genauso wenig mit mir sprechen wollte wie ich mit ihr. Zumindest konnte ich an ihr keine außergewöhnliche Veränderung feststellen, sah man einmal von den dunklen Ringen unter den Augen ab und von den Haarsträhnen, die ihr wirr und verschwitzt über der Stirn hingen. Kimberley hatte es bislang immer verstanden, sich frisch und adrett zu präsentieren; ein Wesenszug, der bei ihr viel stärker ausgeprägt war als bei mir. Bei ihrem Anblick hatte ich das Gefühl, als würde man mir ein Messer im Magen umdrehen. Es war einfach entwürdigend.
Ray schob sich an mir vorbei und kramte in den Hosentaschen nach seinem Schlüssel. Dann schien er zu stutzen. »Das gibt es doch gar nicht«, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns. Er stieß gegen die Tür und sie schwang mit einem leise quietschenden Geräusch zurück. »Sieht so aus, als hätte ich in der Zwischenzeit Besuch gehabt.«
Ich spürte ein prickelndes Gefühl im Nacken und meine Magenmuskeln schienen sich zusammenzuziehen. Es war still im Hausflur, abgesehen von einem entfernten Klappern von Geschirr, ein paar gedämpften Stimmen, die von einem Radio oder einem Fernseher stammen konnten. Doch die Stille konnte trügerisch sein; der Hausflur über uns blieb unseren Blicken verborgen und war damit ein geeignetes Versteck für jemanden, der es auf uns abgesehen hatte. Genauso gut war es aber auch möglich, dass man in aller Ruhe in der Wohnung auf uns wartete.
Ray schien in die gleiche Richtung zu denken wie ich. »Bleibt hier«, flüsterte er. »Ich seh’ erst mal nach, was los ist.«
Ich nickte nur stumm und sah zu, wie Ray die Tür aufstieß und in der dunklen Wohnung verschwand. Ich tauschte einen raschen Blick mit Kim und las in ihren Augen die gleiche Art von Besorgnis, die auch ich empfand. Es war merkwürdig, aber ich dachte zuerst an Steel, an unseren gnadenlosen Verfolger, der im Driver’s Inn ohne zu zögern ein junges Paar erschossen hatte, nur weil er es mit uns beiden verwechselt hatte. Ich traute ihm durchaus zu, dass er Ray aufgestöbert hatte und nun hier in der Wohnung auf ihn oder vielleicht sogar gezielt auf uns alle drei wartete. Und doch passte es nicht zusammen: Steel hätte weder die Haus– noch die Wohnungstür offen gelassen, dazu war er viel zu sehr Profi. Das hier war ganz eindeutig nicht seine Handschrift.
Wir warteten schweigend, während ich gleichzeitig versuchte, den Hausflur und die Wohnungstür im Auge zu behalten. Nichts geschah. Die Sekunden dehnten sich scheinbar endlos. Schließlich wurde es mir zu bunt. Mein Instinkt warnte mich, Ray zu folgen, aber ich tat es dennoch und näherte mich vorsichtig der Tür. Als ich schon nach der Klinke greifen wollte, nahm ich ein anderes Geräusch wahr – ein pulsierendes Piepsen, wie es ein Telefon von sich gibt, wenn man es länger als dreißig Sekunden ausgehängt hat. Das Geräusch irritierte mich; es war ein weiteres Indiz, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch durch die halb offene Tür sah ich nichts als Dunkelheit und ein paar verwischte Lichtpunkte von den gegenüberliegenden Häusern.
Ich blieb noch an die zehn Sekunden dort, wo ich war, und hörte nichts weiter als das Piepsen des Telefons. Dann drückte ich den Handrücken sacht gegen die Türfüllung, atmete tief ein und war mit einem Schritt über der Schwelle.
Im gleichen Moment flammte etwas auf, ein gleißendes Licht, das mich blendete, sodass ich automatisch den Arm hochriss, um meine Augen zu schützen. Und doch erkannte ich genug, um zu wissen, dass ich in die Falle gegangen war; ich verspürte schlagartig das bekannte, leere Gefühl in der Magengrube und einen säuerlichen Geschmack in der Kehle. Was ich sah, ließ mich zusammenzucken, und danach stand ich einen Herzschlag lang wie angewurzelt da. Es waren zwei Männer mit Pistolen in den Händen, die ich nicht kannte, und ein weiterer Mann, der sich etwas abseits hielt. Es dauerte einen Moment, bevor ich ihn gegen das gleißend helle Licht erkennen konnte: Es war Phil Albano, einer der engsten Vertrauten Bachs.
Die Rückkehr ins Hauptquartier von Majestic war wie ein Albtraum für mich; Kim und ich hatten es solange geschafft, Bachs Häschern zu entgehen, bis ausgerechnet mein Bruder Ray sie auf unsere Spur gebracht hatte. Majestic bedeutete, dass das Artefakt für uns endgültig verloren war, dieser einzige offensichtliche Beweis für die Existenz der Außerirdischen, ohne dessen Hilfe unsere Geschichte nicht mehr wert war als das Gestammelte zweier Verrückter. Majestic bedeutete aber auch, dass unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt war und vielleicht sogar unser Leben in akuter Gefahr: Es war nicht vorauszusehen, was Bach mit uns vorhatte.
Ich saß neben Phil Albano im Fond eines großräumigen Plymouth, einer jener Familienkutschen, in denen man wohl kaum Agenten einer Organisation wie Majestic vermuten würde. Kim und meinen Bruder hatte man in einem zweiten Wagen untergebracht; offenbar hatte es Albano für sinnvoll gehalten, mich und Kim zu trennen.
»Wie seid ihr eigentlich auf unsere Spur gekommen?«, fragte ich Albano in dem Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber wie ich erwartet hatte, verzichtete er auf jegliche Antwort. Mit bewegungslosem Gesicht saß er neben mir; die schwarze Sonnenbrille auf seiner Nase wirkte in der Dunkelheit noch deplatzierter als sonst. Zum wiederholten Male fragte ich mich, wie er es eigentlich schaffte, durch die dunklen Gläser auch in der Nacht jede Einzelheit wahrzunehmen, zumal mir noch nie aufgefallen war, dass er irgendwann einmal etwas übersehen hätte.
»Was soll das, Phil«, sagte ich mürrisch. »Immerhin habe ich euch Steel geliefert.« Als er nicht antwortete, fuhr ich fort: »Ihr habt ihn euch doch geschnappt, oder?«
Diesmal antwortete Albano. »Ja, wir haben ihn uns geschnappt«, sagte er ruhig. »Um den brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen.«
»Ah ja. Umso besser.« Ich überlegte verzweifelt, wie ich das Gespräch in Gang halten konnte; denn schließlich war es möglich, dass ich etwas erfuhr, was mir später weiterhelfen würde. »Und habt ihr die Sache mit Oswalds Tod überprüft?«, fragte ich weiter.
Albano wandte den Kopf zu mir und sah mich einen Moment lang schweigend an. »Du quatschst zu viel, Loengard«, sagte er dann. »Wir sitzen doch hier nicht beim Bier zusammen und unterhalten uns über alte Zeiten.«
Allerdings nicht. Diese Vorstellung war auch etwas grotesk; ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand mit Albano typisches Bargeplänkel austauschte. Und schon gar nicht, wenn es um Majestic ging. »Mir ist nicht nach Smalltalk zu Mute«, antwortete ich dennoch ungehalten. »Aber es könnte ja sein, dass ich noch mehr weiß. Es könnte sein, dass ein Gespräch zwischen uns wie zwischen erwachsenen Leuten den Sinn hätte, uns auf den gleichen Kenntnisstand zu setzen.«
Albano nahm meine Worte ohne sichtbare Regung auf. Aber dennoch war da eine Kleinigkeit anders als sonst, das unbestimmte Gefühl, dass etwas seine simple Sicht, die Dinge zu betrachten, durcheinander gebracht hatte und er sich nicht ganz sicher war, ob es nicht vielleicht doch besser war, sich auf ein Gespräch einzulassen. »Du bluffst, Loengard«, behauptete er. »Du weißt gar nichts. Das mit Steel war ein Glückstreffer. Außerdem hätten wir ihn auch ohne dich erwischt; er hatte den Bogen bereits überspannt und hätte ein, zwei Tage später auffliegen müssen.«