»Aha. Und wie das?«
»Was, zum Teufel, geht dich das an?« Phil Albano wirkte trotz seiner schroffen Worte so distanziert wie immer – aber immerhin unterhielt er sich mit mir. Und das allein war schon ungewöhnlich genug.
»Es geht mich eine ganze Menge an«, antwortete ich ernsthaft und mit dem festen Entschluss, meinen einzigen Trumpf hier und jetzt auszuspielen. »Schließlich bringt ihr mich nach Majestic zurück.« Obwohl ich vorhatte, so ruhig wie möglich zu bleiben, konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. »Und da läuft nicht nur Steel mit netten kleinen Ganglien rum.«
Ich glaubte im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung zu erkennen, dass Albano die Stirn runzelte. Vielleicht täuschte ich mich auch. Aber dennoch: Ich hatte ihn immer als einen Soldaten betrachtet und als sonst nichts. Ein Mann, der Befehlen gehorchte und im Rahmen überschaubarer Regeln problemlos mit dem Unfassbaren umgehen konnte, solange es sich nur irgendwie bekämpfen ließ. Was aber musste in diesem Mann vorgehen, wenn er nicht wusste, ob seine Vorgesetzten und Kollegen vielleicht von einem bösen Geist besessen waren, von etwas, das wir Hive nannten? Ging es ihm nicht ähnlich wie schlachterprobten Kriegern im Mittelalter, die zwar Tod und blutrünstige Massaker nicht fürchten, wohl aber das unerklärbar Dämonische, das monströs Teuflische, den Leibhaftigen, der ihrem Glauben zufolge in jedem Menschen stecken konnte?
»Wenn du etwas weißt, dann spuck es aus«, sagte Albano ruhig. »Sonst spar dir deine Rede für Bach. Er ist für dein Seelenleben verantwortlich, nicht ich.«
Ich unterdrückte die Bemerkung, dass mein Seelenleben weder ihn noch Bach irgendetwas anging. »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher«, sagte ich stattdessen laut. »Ich kann dir mehr sagen, wenn du mir verrätst, wie ihr Steel geschnappt habt.«
»Das klingt nach einem Kuhhandel«, sagte Albano verächtlich. »Auf so etwas lasse ich mich prinzipiell nicht ein.«
»Nenn es, wie du willst«, sagte ich so beherrscht wie möglich. »Aber was hast du zu verlieren? Ich bin ein Gefangener Majestics. Und das, was ich sowieso schon weiß, dürfte weit über das hinausgehen, was du mir erzählen kannst.«
»Kann sein«, sagte Albano. »Ich sehe trotzdem nicht ein, warum du die Geschichte von Steels... eh... Verhaftung wissen musst, um mir einen Verdacht zu nennen.«
»Weil es etwas schwerer ist, als zwei und zwei zusammenzuzählen«, sagte ich eindringlich. »Schließlich habe ich auch Steel enttarnt, bevor ihr das geschafft habt. Vielleicht gelingt mir das auch in einem anderen Fall.« Ich biss mir auf die Lippe; es war eine unbewusste Geste, die Albano meine Unsicherheit verraten hätte, wenn er sie gesehen hätte. Aber wir fuhren jetzt durch eine unbeleuchtete Seitenstraße und damit hatte Albano, mit oder ohne Sonnenbrille, keine Chance, irgendetwas zu sehen.
Albano ließ mich ein paar Sekunden zappeln. Die zu weiche Federung des Plymouth schüttelte mich währenddessen durcheinander und mir fiel plötzlich ein Fahrbericht in der Washington Post ein, der diesen Wagen weich und instabil wie ein Sofakissen genannt hatte. Komisch, welche Dinge einem manchmal in den Kopf kommen. Dabei war mein Gefühl viel mehr bei Kim, die mit Ray in dem vor uns fahrenden Straßenkreuzer saß und sicherlich nicht weniger verzweifelt war als ich. Wenn ich wenigstens neben ihr hätte sitzen können! Doch so konnte ich sie nicht einmal trösten.
»Also gut«, sagte Albano schließlich. »Schließen wir den Kuhhandel. Ich erzähl’ dir alles über Steel und dann sagst du mir, was du daraus für Schlüsse ziehst.«
Das war mehr, als ich erwartete hätte. »Okay«, sagte ich trotzdem schwächlich und plötzlich gar nicht mehr so sicher, dass mein Bluff eine gute Idee gewesen war.
»Bach ist dem Hinweis, dass Steel hive sein könnte und an der Ermordung Lee Harvey Oswalds beteiligt war, sofort nachgegangen«, begann Albano ruhig, während er die Sonnenbrille abnahm und gedankenverloren mit ihr spielte. »Er hat alles andere hintangestellt und sich den Film besorgen lassen, der Oswalds Ermordung zeigt. Und dabei sind wir dann tatsächlich auf etwas gestoßen, was bis dahin undenkbar gewesen wäre.« Albano fuhr fort, mit ruhiger, sachlicher Stimme von den Ereignissen nach meinem Telefonat mit Bach zu berichten. Und doch hatte seine Art zu erzählen eine ganz eigene Kraft, etwas, das mich seine Worte in der Phantasie so ergänzen ließ, dass sich ein geradezu plastisches Bild der Ereignisse in mir formte.
24. November 1963, 13:17
Majestic
»Stoppen Sie dort«, sagte Bach mit dem Telefonhörer in der Hand. »Halten Sie sie genau dort... und gehen Sie noch ein Stück zurück.«
Das Surren des Projektors verstummte einen Herzschlag lang, als Albano die Stopptaste drückte und den Film dann zurücklaufen ließ. Doch kaum setzte das Summen wieder ein, da winkte Bach mit einer schnellen Bewegung ab, die an einen Streckenposten erinnerte, der einen Formel-1-Rennwagen an die Boxen zurückruft. »Frieren Sie es genau dort ein«, ordnete er an.
»Da ist Steel nur zwei Schritte hinter Oswald, direkt hinter dem Cowboy«, stellte Albano sachlich fest. Tatsächlich war dort Steel aufgetaucht, ein schwarzweißer Schatten rechts hinter dem dicken schweren Mann mit Cowboyhut, der rechts neben Oswald ging und offensichtlich nicht nur die Aufgabe hatte, einen Gefangenen zu verlegen, sondern auch, ihn zu beschützen. Was ihm offensichtlich vollkommen misslungen war. Aber darum ging es jetzt nicht und auch nicht um die Frage, warum man Kennedys Mörder so leichtsinnig in aller Öffentlichkeit verlegt hatte. Lynchjustiz war schließlich ein Wort, dass mit keinem anderen Land der Welt so eng verbunden zu sein schien wie mit den USA. Die offene und nur unzureichend gesicherte Verlegung des Mörders des beliebtesten amerikanischen Präsidenten kam der Aufforderung zu einer Affekthandlung geradezu gleich.
Um eine Affekthandlung ging es hier aber ganz und gar nicht. Steels Gesicht wirkte angespannt und selbstversunken wie das eines Mannes, der zu allem entschlossen war. Im tristen Schwarzweiß des grobkörnigen Films, den alle Wochenschauen und Fernsehstationen immer und immer wieder gezeigt hatten, war er doch nicht mehr als ein flüchtiger Schatten, ein für die meisten Menschen namenloses Gesicht, das für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzte und dann wieder vergessen war.
Nicht aber für Bach und Albano. Bachs Gesicht schien es verlernt zu haben, so etwas wie Überraschung zu zeigen, und doch schien es Albano, als zucke beim Anblick seines womöglich engsten Mitstreiters ein Anflug von Unverständnis und Ärger übers Gesicht. Aber statt das Bild zu kommentieren, nickte er wie geistesabwesend. »Und was hat die Überprüfung der Telefonverbindungen ergeben?«, fragte er seinen unsichtbaren Gesprächspartner, während er mit dem Telefon in der Hand an das nach innen führende Fenster trat, dessen Jalousien nicht nur wegen der Vorführung heruntergelassen waren. Er schob ein paar Lamellen auseinander, gerade weit genug, um einen Blick auf den Mann werfen zu können, der auf der Leinwand in Übergröße hinter Oswald stand, während er im Augenblick unruhig wartend auf dem Flur stand. Fast schien es, als würde Steel spüren, dass sich etwas gegen ihn zusammenbraute, denn seine sonst zur Schau getragene Überheblichkeit hatte einem unruhig flackernden Blick Platz gemacht. Er biss sich auf die Lippen und sah sich sichernd nach beiden Seiten im Gang um; eine erstaunlich menschliche Bewegung für jemanden, der hive sein sollte.
»Das ist genau einen Moment vor Oswalds Ermordung«, stellte Albano fest, der den Blick nicht von der Leinwand genommen hatte. »Und Steel steht genau in der richtigen Position.« Er musste nicht erklären, wozu die Position richtig war.