Ich ging zu Kim zurück, die sich mittlerweile zehn oder zwölf Meter vom Wagen entfernt hatte. Wortlos griff ich unter die Jacke, zog meine Pistole und feuerte rasch hintereinander vier Schüsse auf den Wagen ab. Zwei Kugeln stanzten runde Löcher in den Kofferraumdeckel, die dritte prallte als heulender Querschläger vom Seitenholm ab, während die vierte eine fast meterlange, hässliche Narbe in die Fahrertür pflügte. Perfekt; wenigstens fast. Vielleicht hätte ich den Wagen nicht langsam ausrollen lassen, sondern mit einer Vollbremsung zum Stehen bringen sollen, um entsprechende Spuren zu hinterlassen. Nun war es zu spät.
Ich trat zurück und wandte mich zu Kimberley um. Auf ihrem Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck. Sie hatte die Lippen zu einem schmalen, blauen Strich zusammengepresst.
»Was hast du?«, fragte ich.
Kim deutete ein Achselzucken an und ein knappes, unechtes Lächeln. »Nichts«, behauptete sie. »Ich musste nur gerade daran denken, wie du ihn gekauft hast. Du warst so stolz damals.«
»Es ist nur ein Auto, Kim«, antwortete ich.
Aber das stimmte nicht. Es war unser erster gemeinsamer Wagen gewesen und in einer gewissen Art und Weise war er viel mehr als ein lebloses Stück Metall. Er war Teil unseres Lebens und Symbol unserer Selbständigkeit – nicht zu vergleichen mit dem alten Ford meines Vaters, den ich mir früher manchmal ausgeliehen hatte und der mir immer nur als Symbol der Abhängigkeit von meiner Familie erschienen war. Ich hob die Waffe, entsicherte sie wieder und drückte sie Kim in die Hand. Sie sah mich fast erschrocken an, aber ich nickte nur auffordernd, trat einen Schritt zur Seite und deutete auf den Chevy.
»Es ist einfacher, wenn du sie mit beiden Händen hältst. Und erschrick nicht. Der Rückschlag ist ziemlich stark.«
Kimberley zielte mit beiden Händen. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie lernte, mit einer Waffe umzugehen.
»Ziel auf die Heckscheibe«, sagte ich. »Nicht zu tief.« Ich wollte nicht, dass sie den Tank traf. Wir waren weit genug entfernt, um nicht in Gefahr zu sein, aber wir wollten schließlich nicht, dass die Polizei ein ausgebranntes Wrack fand. Kims erster Schuss ging daneben und schlug Funken aus einem Felsen, meterweit entfernt, aber die beiden anderen saßen perfekt im Ziel. Die Heck– und Frontscheibe des Chevy zerbarsten in einem Hagel winziger, rechteckiger Glassplitter. Mit einem erschöpften Laut ließ sie die Waffe sinken und wandte sich ab. Sie sah tatsächlich ein bisschen so aus, als hätte sie gerade einen guten Freund erschossen; so, wie ich mich fühlte. Es war fast unheimlich, wie ähnlich sich unsere Gedankengänge und Empfindungen manchmal waren.
Ich nahm ihr die Waffe ab, steckte sie ein und trat ein letztes Mal an den Wagen heran. Der Motor lief noch immer und das würde wahrscheinlich auch so bleiben, bis der Tank leer war. Die Sitze waren mit scharfkantigen Glastrümmern übersät, von denen ich eine Hand voll ergriff. Ich schloss die Finger kurz und hart zur Faust. Ein scharfer Schmerz, und das Glas in meiner Hand vermengte sich mit Blut, das ich sorgfältig über Lenkrad, Armaturenbrett und das Rückenpolster des Fahrersitzes verteilte. Damit war die Szene perfekt. Alles mehr wäre zu viel gewesen.
Rasch wandte ich mich um und ging zu Kimberley zurück. Sie hatte die schmale Reisetasche mit dem wenigen, das uns verblieben war, bereits ergriffen und ging den Hügel hinauf, den ich vorhin als Aussichtspunkt benutzt hatte. Sie sah nicht zum Wagen zurück.
»Glaubst du, dass sie darauf reinfallen?«, fragte sie.
»Die Polizei?« Ich nickte. »Zwei naive junge Leute, die leichtsinnig genug waren, mit dem Wagen in diese gottverlassene Gegend zu fahren und Opfer eines Verbrechens wurden. So etwas kommt vor. Öfter, als man denkt.«
»Bach«, sagte Kimberley.
Diesmal bestand meine Antwort aus einem sekundenlangen Schweigen, gefolgt von einem Kopfschütteln. Es hatte wenig Sinn, sich etwas vorzumachen. Bach war selbst ein zu guter Lügner, um auf einen so simplen Trick hereinzufallen. Vielleicht würde es uns ein wenig Zeit verschaffen, aber viel wichtiger war die Botschaft, die ich ihm damit schickte. Sieh her, Majestic, sagte der Wagen hinter uns, wir spielen das Spiel. Es würde sie vorsichtiger machen. Sie würden sich mehr Zeit nehmen, bevor sie uns aufgriffen, und in jedem Schatten eine Bedrohung vermuten.
Schweigend machten wir uns an den langen Fußmarsch zur Bushaltestelle. Der Wind war sehr kalt.
Die Telefonzelle war immer noch besetzt. Ich war vor gut fünfzehn Minuten hereingekommen, genau im richtigen Moment, um zu sehen, wie ein dunkelblauer Buick vor der Telefonzelle auf der anderen Seite des Parkplatzes anhielt und der Fahrer ausstieg, um die Zelle zu betreten und zu telefonieren.
Seither wartete ich darauf, dass er aufhörte.
Eine Kellnerin in Jeans und einer weißen Spitzenbluse trat an meinen Tisch und schwenkte fragend eine Kaffeekanne. Ich nickte wortlos, wartete, bis sie mir nachgeschenkt hatte, und wandte meine Konzentration dann wieder der Telefonzelle zu. Der Fahrer des Buick stand noch immer darin und telefonierte. Ich hoffte nur, dass er nicht sämtliche Anzugtaschen voller Münzen hatte, um hier die halbe Nacht zu verplempern.
Es begann zu dämmern. Der Schatten der Telefonzelle war auf das Doppelte angewachsen, seit ich am Fenster saß und sie beobachtete, und hier drinnen begannen die Farben zu verblassen. Trotzdem machte niemand Anstalten, das Licht einzuschalten. Auch der Geräuschpegel war nicht der, den man von einem Fast-Food-Restaurant am Rande eines Highway mit dem wenig einfallsreichen Namen Driver’s Inn erwartete. Der größte Teil der mit rotem Steppleder bezogenen Bänke war besetzt und die beiden Kellnerinnen hatten alle Hände voll zu tun, Bestellungen aufzunehmen, die Gäste zu bedienen und zu kassieren. Trotzdem herrschte eine fast gespenstische Stille. Niemand lachte. Die wenigen Gespräche wurden schleppend und im Flüsterton geführt. Die einzige permanente Geräuschquelle war der Fernseher, der an der Wand über der Theke hing. An diesem Abend liefen jedoch weder die üblichen Soap-Operas noch Spielfilme oder Musiksendungen. Seit ich hereingekommen war, war noch kein einziger Werbespot gesendet worden. Dafür wechselten sich die ernsten Gesichter von Nachrichtensprechern und Politikern ab.
Nicht nur dieses Restaurant, das ganze Land stand noch unter Schock. Es war der Tag nach dem Kennedy-Mord und ich hatte das Gefühl, dass die meisten noch gar nicht richtig begriffen hatten, was dieses schreckliche Attentat wirklich bedeutete. Es war nicht einfach nur ein Mord. Lee Harvey Oswald hatte mehr getan, als einen Politiker zu erschießen. Amerika war die mächtigste Nation der Welt, aber all unser Stolz, all unser Mut und all unsere Waffen und überlegene Technik hatten einen einzelnen Mann nicht davon abhalten können, den Führer dieses mächtigen Landes auf offener Straße zu erschießen. Viele der Menschen, die wir heute getroffen hatten, hatten geweint. Auf anderen Gesichtern hatte ich Zorn gelesen, aber auch Verbitterung, ohnmächtige Wut oder auch einfach nur Fassungslosigkeit. Oswald hatte mehr getan, als einen Menschen zu erschießen. Er hatte uns allen unsere Verwundbarkeit vor Augen geführt und er hatte einen Mythos zerstört: den bis gestern fast unerschütterlichen Glauben an eine bessere Welt, den Kennedy vielleicht mehr verkörpert hatte als jeder andere Präsident der USA zuvor.
Oswald...
Ich bezweifelte, dass der Mörder Kennedys tatsächlich Lee Harvey Oswald hieß. Möglicherweise hatte er die Waffe gehalten, aus der die tödlichen Schüsse abgegeben worden waren, aber der wahre Mörder war ein ganz anderer.
Vielleicht kannte ich sogar seinen Namen.
Ich riss meinen Blick fast gewaltsam vom Fernseher los, sah wieder zu der Telefonzelle am Ende des Parkplatzes und stellte ohne sonderliche Überraschung fest, dass der Buick-Fahrer sie noch immer besetzt hielt. Hoffentlich hatte er nicht vor, darin zu überwintern.
»Noch einen Kaffee?«
Die Stimme der Kellnerin riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah hoch, blickte dann wieder auf meine Tasse hinab und schüttelte den Kopf. Ich hatte den Kaffee, den sie mir vor fünf Minuten gebracht hatte, noch nicht einmal angerührt. »Danke. Ich... habe noch.«