In diesem Moment sprang Ray vor. Es waren zu wenig Kraft und Geschwindigkeit in seiner Bewegung, um einen Mann wie Steel ernsthaft gefährden zu können. Dennoch beschrieb das Messer in Steels Hand einen Halbkreis, verließ dann seine Hand und sauste so schnell, dass es für einen Sekundenbruchteil fast unsichtbar war, auf Rays Kopf zu und schnitt dann in grausamer Endgültigkeit in seine Kehle ein, bevor es fast ungebremst gegen die helmähnliche Vorrichtung traf, in der noch vor wenigen Minuten Rays Kopf gesteckt hatte, und zu Boden purzelte.
»John, urrggh«, gurgelte Ray und Blut spritzte aus seiner Wunde hervor wie eine Fontäne; ein paar Spritzer trafen mich, aber in diesem Moment nahm ich es nicht wahr. Ich starrte nur auf den schrecklichen Schnitt in Rays Hals, auf den Hemdkragen, der sich augenblicklich rot färbte, und auf das überall blubbernde, grässlich dickflüssige Blut, das mit einer Geschwindigkeit aus ihm herausschoss, die jeden Rettungsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilte.
Ray spuckte Blut und seine Augen fraßen sich mit seltsamer Klarheit an mir fest, als wolle er sich mein Bild für alle Ewigkeiten einprägen. Ich war zu keiner Handlung fähig, sondern stand nur wie erstarrt da. Alles, was ich begriff, war, dass mein Bruder starb; dieser lausige Bastard, der mich geärgert hatte, wo nur immer er gekonnt hatte, und letztlich doch immer zu mir gestanden hatte. Steel hatte ihn umgebracht und die wenigen Sekunden, die er noch zu leben hatte, mussten fürchterlich gewesen sein.
Es können nur Sekundenbruchteile gewesen sein, in denen mir diese Gedanken durch den Kopf schossen, doch sie hatten Steel gereicht, um zur Wand zurückzuweichen und Kim zu packen. Mit einer unglaublich kraftvollen Bewegung riss er sie an sich heran.
»Jetzt ist sie dran!«, schrie er. »Du hast alles zerstört, Loengard, und jetzt zerstöre ich alles, was dir wichtig ist, bevor ich dich endgültig auslösche!«
»Nein!«, schrie ich in der Ekstase des Schreckens. Es kam mir in diesem Moment gar nicht zu Bewusstsein, dass mit dem Tod Rays das Experiment der Hive in sich zusammengekracht sein könnte wie ein Kartenhaus; aus irgendeinem Grund waren mein Bruder, Kim und Steel zwingend notwendig für das Gelingen dessen, was Steels Auftraggeber geplant hatten. Rays grausiges Schicksal wischte alle anderen Gedanken in mir fort. Ich wollte ihm beistehen, wenigstens im Tod, und vorher hatte ich noch etwas zu erledigen. Ich musste Steel töten.
Steel hielt Kims Hals immer noch umklammert und wie er so dastand, bleich und mit einem monströs funkelndem blinden Auge, sah er aus wie eine Karikatur eines Vampirs. Ich hatte nur noch eine Kugel und sie würde Kims Kopf zerschmettern, wenn ich meine Sache nicht gut machte. Aber ich würde meine Sache gut machen. Ich wartete auf den richtigen Moment, auf den einzigen Moment, in dem ein Schuss ein sicherer Schuss sein konnte. Ich hatte keine Zeit mehr und doch alle Zeit der Welt. Es war überfällig, dass die Blutspur, die Steel hinter sich gelassen hatte, mit seinem eigenen Tod gesühnt wurde.
»Komm schon, du Bastard«, fauchte Steel. Es klang kaum mehr wie eine normale menschliche Stimme und ich musste daran denken, wie Steel in Rubys Nachtklub in das Funksprechgerät gekeucht und lang gezogene, unmenschlich klingende Laute hineingestöhnt hatte. Seine menschliche und seine außerirdische Existenz schienen immer mehr zu verschmelzen.
Er stand nur wenige Meter von mir entfernt und irgendwie wusste ich, was kommen würde. Der Killer Steel würde nicht einfach mit einer Geisel im Arm dastehen und darauf warten, dass ich den ersten Schritt tat. Er wollte mich zerreißen wie ein Berglöwe ein Wolfsjunges, das sich neugierig und unvorsichtig von seiner Mutter entfernt hatte. Und er würde es zweifelsohne schaffen, unter normalen Bedingungen.
Die Realität wich für mich immer mehr zurück. Ray, der röchelnd um Luft rang für seine letzten Atemzüge. Kim, meine geliebte Kim, die mit einem vollkommen verstörten Gesichtsausdruck auf Steels raue Umklammerung reagierte – alles das wich immer weiter zurück. Was übrig blieb, waren der Jäger und sein Opfer.
Steel glaubte der Jäger zu sein. Das war sein Irrtum. Als er sich abstieß, Kim dabei hart zur Seite schleuderte und mit einem Riesensatz bei mir war, verließ genau in diesem und keinem anderen Moment die letzte Kugel meine Waffe. Der Knall war genau zwischen mir und Steel, zwischen mir und dem stinkenden Etwas, zu dem Steel mutiert war, zwischen mir, dem Zauderer und Sensiblen, und Steel, dem gnadenlosen Killer, der er schon immer gewesen war.
Steel stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus – einen Schrei, in den sich Angst, Schmerz und Wut mischten. Aus dem runden Loch neben seiner Nasenwurzel spritzte Blut hervor und er riss eine Hand hoch, presste sie instinktiv an seine Wunde, als könne er damit die Blutung stoppen und die Verletzung ungeschehen machen. Gleichzeitig stolperte er auf mich zu, mit schleppenden, aber immer noch viel zu kraftvollen Bewegungen. Es hatte etwas Unwirkliches an sich, aber Steel war ja auch unwirklich, nicht mehr nur Mensch, sondern auch etwas Anderes, Unfassbares – und trotz all der Erklärungen von Bach und Hertzog würde meinem innersten Wesen für immer fremd bleiben, in was er sich verwandelt hatte.
Wenn Kim nicht in diesem Moment aufgeschrien hätte, ein hoher, spitzer Schrei, als sie über die Liege stolperte, das Gleichgewicht verlor und hinschlug, wäre ich vielleicht wie gelähmt stehen geblieben und Steel hätte mich doch noch erwischt, mit seinem wie eine Baggerschaufel vorgestreckten linken Arm, der mich zerquetschen würde, ohne mir die Chance zur Gegenwehr zu geben.
Doch Kims Schrei riss mich aus meiner Erstarrung und es wurde mir schlagartig klar, dass es um mehr ging, als nur dieses Monster zu besiegen. Mit einem verzweifelten Satz steppte ich beiseite und Steel stolperte an mir vorbei. Mit einer uneleganten, plumpen Drehung versuchte er die Richtung zu ändern und seine Hand schrammte an meiner Wange vorbei. Doch dann knickte er in die Knie ein, röchelte und fiel schwer wie ein Sack vornüber.
Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Mein Blick galt nur noch Ray, der mittlerweile in sich zusammengesackt war; auf allen vieren lag er am Boden und sein Kopf stand seltsam schief vom Körper ab; überall war Blut, so schrecklich viel Blut, und immer noch sprudelte Blut aus der Halsschlagader hervor, aber es war ein versiegender Lebensfluss und wenn er zum Stillstand gekommen war, würde auch Ray tot sein.
Mit ein paar wenigen Schritten war ich bei meinem Bruder. Ich ließ mich neben ihm nieder, packte sein Handgelenk und suchte seinen Pulsschlag – obwohl ich schon vorher wusste, dass ich dort nichts finden würde, suchte ich verzweifelt nach einem Lebenszeichen, einem Ansatz für Hoffnung.
Aber es gab keine mehr. Seine Augen starrten gebrochen und tot durch mich hindurch und um seine Mundwinkel stand ein Lächeln, das ich nicht verstand, das ich umso grausamer fand angesichts der Qual, in der er hatte sterben müssen. Tränen stiegen in meine Augen und rannen mir die Wangen hinab. Ich verstand es nicht. Ich verstand einfach nicht, dass er hatte sterben müssen. Wo war der Sinn in all dem?
Ich hörte ein Geräusch hinter mir und drehte mich langsam um. Fast erwartete ich, dass sich Steel wieder aufgerappelt hatte, und fast war es mir egal. Aber es war Kim, die auf mich zustolperte; ihre Augen waren riesig, ihre Lippen zitterten, ihr Gesicht war vor Schrecken aschfahl. »Ist er...?«, fragte sie.
Ich nickte langsam und erneut stiegen mir Tränen in die Augen. »Ja«, sagte ich mit belegter Stimme. »Er ist tot.«
Ich weiß nicht, wie lange ich so neben ihm hockte, mit Kim hinter mir, die mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte und leise schluchzte. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, vielleicht etliche Minuten – doch sie erschienen mir wie eine Ewigkeit. Szenen aus unserer gemeinsamen Jugend kamen mir in den Sinn, abgehackt und durcheinander gewirbelt, und ich bekam keinen einzigen Erinnerungsfetzen wirklich zu fassen. Es war so unbegreiflich. So ohne Sinn. Der Junge, mit dem ich groß geworden war, der Junge, mit dem ich gestritten, gerauft und herrliche Zeiten verlebt hatte – der war jetzt tot. Und irgendwie war ich für seinen Tod verantwortlich; ich hatte den Stein ins Rollen gebracht, der ihn schließlich mit hinab ins Verderben gezogen hatte.