Вода й вогонь
Zähle die Mandeln…
Полічи миґдаль…
Paul Celans poetisches Erstlingswerk: „Mohn und Gedächtnis“
Im Jahre 1894 erschien in einem der Leipziger Verlage ein Buch unter dem Titel „Die Geschichte des Erstlingswerkes”[1], das Karl Emil Franzos als Herausgeber zeichnete. Das Buch enthielt selbstbiographische Aufsätze von 19 deutschsprachigen Autoren, darunter von Rudolf Baumbach, Felix Dan, Georg Ebers, Marie von Ebner-Eschenbach, Theodor Fontane, Paul Heyse, Conrad Ferdinand Meyer, Friedrich Spielhagen, Hermann Sudermann, Julius Wolff u. a. Franzos selbst war dort mit dem Essay „Mein Erstlingswerk: ‘Die Juden von Barnow”’ vertreten. Bis heute bleibt dieses Buch eine überaus spannende Lektüre, da es sehr lebhaft den inneren Entwicklungsgang zeigt, den jeder Dichter durchmacht, bevor er zu seinem ersten Buch kommt.
Die Entstehung des Erstlingswerkes kann manchmal sehr langwierig und dornig sein — wegen zahlreicher Hindernissen und Hürden, die der junge Autor zu bewältigen hat, um sein ersehntes Ziel zu erreichen. Die Geschichte der Weltliteratur kennt auch Beispiele, wo ein Schriftsteller, dessen Werke heute zum literarischen Kanon gezählt werden, zu seinen Lebzeiten keine einzige Buchveröffentlichung erleben und erst posthum als eine wichtige literarische Stimme entdeckt werden konnte (z.B. die amerikanische Dichterin Emily Dickinson). In dieser Hinsicht spielt das Erstlingswerk eine äußerst wichtige Rolle im Leben jedes Autors und bleibt dann lange Zeit richtungweisend für seinen weiteren dichterischen Weg. Für Franzos’ Landsmann Paul Celan war dieser Weg recht mühsam.
Es ist durchaus verständlich, dass jeder junge Autor seine erste Buchpublikation sehnlich herbeiwünscht und sie als ein außergewöhnliches Ereignis in seinem Leben betrachtet. Paul Celan war da keine Ausnahme. Bereits in Czernowitz hatte er mehrere Versuche unternommen, seine Gedichte zu sammeln und zu ordnen, um sie als einen einheitlichen Textkorpus bei sich sorgsam zu bewahren und auf diese Weise alles Geschriebene vor möglichen Gefährdungen zu sichern. Es gibt dazu viele überzeugende Belege.
Während seines Aufenthalts im rumänischen Arbeitslager Tabäre§ti (1942–1944) notiert Celan seine Gedichte in ein kleines Notizbuch, um sie immer bei sich zu haben. Nach Czernowitz zurückgekehrt, schreibt er sie dann in ein anderes Büchlein kalligraphisch ab und ordnet sie zyklisch („Der Sandmann“, „Vor Mitternacht“, „Drüben“, „Blumen“, „Das Fenster im Südturm“), so dass diese kleine handschriftliche Sammlung der Verse strukturell wie ein richtiger Gedichtband wirkte, obwohl er noch keinen Buchtitel hatte. Dieses einzigartige handschriftliche Bändchen schenkte er dann seiner Czernowitzer Freundin Ruth Lackner (Kraft). Kurz darauf entsteht auch das sog. „Typoskript 1944” — eine maschinenschriftliche Zusammenstellung all seiner bis dahin entstandenen Gedichte und Anfang 1945 — das „Manuskript 1945”, das wegen seines schwarzen Ledereinbands einem Buch gleicht und 97 Gedichte aus der Kriegszeit in Reinschrift enthält. Dieses Manuskript wollte Ruth Lackner dem in Bukarest seit Ende der 1930er Jahre wohnenden Bukowiner Dichter Alfred Margul-Sperber zeigen. Zu einem engeren Kontakt Celans mit seinem späteren dichterischen Mentor und Förderer kommt es jedoch erst nach der Ankunft des jungen Autors in Bukarest, wo er seinen ersten Gedichtband „Der Sand aus den Urnen" schon ganz zielbewusst für eine hypothetische Publikation konzipiert.
1
Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbstbiographische Aufsätze. Eingeleitet von Karl Emil Franzos. — Leipzig: Verlag von Adolf Ditze, o. J. [1894], XVIII, 296 S.