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Ohne jeglichen Zweifel stellte der Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ den wichtigsten Meilenstein und den größten Durchbruch in Celans Leben dar. Bereits seine schwierige Entstehungsgeschichte bekräftigt diese These. Der Weg zu diesem „offiziellen“ poetischen Buchdebüt des Dichters dauerte viel länger, als die Genese aller nächsten Gedichtbände des Autors — von den ersten, noch in Czernowitz 1944 entstandenen Gedichten über die in Bukarest und Wien geschriebenen Texte — bis zu den lyrischen Schöpfungen der Pariser Zeit waren etwa acht Jahre vergangen. Auch die Dichte der Erfahrungen, die hier ihren Niederschlag fanden, ist kaum mit anderen Perioden seines Lebens zu vergleichen: Krieg und Verfolgung, Deportation und Ermordung der Eltern, das rumänische Arbeitslager, Flucht aus dem sowjetischen Czernowitz nach Rumänien, das elende Dahinvegetieren in den Metropolen Europas… All das klingt in diesem dichterischen Erstling Celans mit.
Der Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ enthält diesmal 56 lyrische Texte. Fast die Hälfte davon (26 Gedichte) wurde von dem eingestampften Wiener Band „Der Sand aus den Urnen“ übernommen, was darauf hinweist, dass Celan seinen missglückten Wiener Band nicht verworfen, sondern fortgesetzt hatte. Der Titel stammt aus dem in Wien geschriebenen Gedicht „Corona“ (lat. Kranz), wo es heißt: „Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis“. Dieses Wortpaar, das in Celans poetischem System ein ausgeprägtes Oxymoron, aber zugleich auch eine unlösbare Einheit bildet, da es die Polarität von Erinnerung und Vergessen skizziert und das Gedenken an die Toten zu einem unentbehrlichen Element des Lebens erklärt, ist vielschichtig und tiefgehend, es löst beim Leser eine Fülle von spontanen Assoziationen aus, die zwischen Flamme, Rausch, Traum, Liebe, Schmerz und Tod lokalisiert sind. „Erst der ‘Mohn’, das Eintauchen in Traum, Rausch und Vergessen, ermöglicht das lebendige ‘Gedächtnis’ der Toten“[6], — bemerkt dazu Wolfgang Emmerich. Im Wiener Band „Sand aus den Urnen" war „Mohn und Gedächtnis“ der Titel des größten mittleren Zyklus. Nun hat Celan dieses weit verzweigte, symbolträchtige Bildgefüge auf den Buchumschlag seines Gedichtbandes programmatisch als einen metaphorischen Oberbegriff gestellt — so dass die Titel der Gedichtzyklen nun im Lichte dieses traumatischen Bildes gelesen werden könnten. Der erste Zyklus „Der Sand aus den Urnen“ (25 Gedichte) umfasst noch Gedichte aus der Czernowitzer, Bukarester und Wiener Zeit, die „Todesfuge“ (in Czernowitz konzipiert und in Bukarest abgeschlossen und zum ersten Mal in der rumänischen Übersetzung von Celans Freund Petre Solomon unter dem Titel „Todestango“ („Tangoul mortii") in der Zeitung „Contemporanul“ vom 2. Mai 1947 veröffentlicht) bildet einen eigenständigen Abschnitt und erfüllt hier die Rolle einer Achse, die strukturell und thematisch das Gleichgewicht hält, der dritte Zyklus „Gegenlicht“ (17 Gedichte) und die vierte Zyklusfolge „Halme der Nacht“ (1 3 Gedichte) — schließen dann jene Gedichte ein, die bereits in Paris entstanden waren. Diese Strukturierung ist chronologisch, aber auch thematisch angelegt, und wir können verfolgen, wie radikal sich thematische Dominanten des Autors seit der Wiener Zeit verändert haben. Mit Recht betont Joachim Seng: „Der Band ist ein gutes Beispiel dafür, wie Celan mit Hilfe der Komposition auf veränderte Wirklichkeit reagiert“[7].
Nicht zufällig hatte Celan die „Todesfuge“ etwa in die Mitte seines Gedichtbandes gestellt, wo sie die zentrale Stelle einnimmt. Mit der in ihr gestalteten schrecklichen Problematik des jüdischen Massenmordes wurde die bildliche Semantik des Buchtitels ins Extreme geführt und das Gedenken an die Opfern zum schmerzlichsten moralischen Trauma der Deutschen gemacht, das in ihrem Gedächtnis gleich einer nie schließenden Wunde klaffen soll. Die Schwierigkeiten bei der Rezeption dieses bis heute berühmtesten Gedichts Celans zeigen, dass dies eine der größten Herausforderungen an das deutsche Bewusstsein seit eh’ und je war. Weder die ersten Leser noch die frühen Rezensenten des Celanschen Gedichtbandes haben diese Absicht des Dichters in vollem Maße erfasst, indem sie die „Todesfuge“ als eine „Versöhnungsgeste“, als Überwindung der furchtbaren Wirklichkeit der Todeslager betrachteten und sich von der Ästhetik dieser „schönen“ Sprache eine gewisse Verdrängung der historischen Schuld und eine moralische Entlastung erhofften.
Der Band „Mohn und Gedächtnis“ kristallisiert somit thematische Schwerpunkte, die bereits in „Der Sand aus den Urnen“ angeschnitten und deklariert wurden: Shoa und Andenken, Heimatlosigkeit und Unterwegssein, Eros und Thanatos, Sprache und Zeit. Die Anknüpfung an die kulturelle Tradition erweist sich in der Vielfalt biblischer (Akra, Babel, Ägypten, Ruth, Noemi, Mirjam, Sulamith) und antiker (Jason, Orion, Deukalion und Pyrrha) mythologischen Reminiszenzen, in der Anspielung auf Bilder und Motive der klassischen und modernen Literatur (Luther, Goethe, Heine, Andersen, Rilke, Trakl). Diese überlieferten Namen und Realien werden in seinen Gedichten jedoch immer aktualisiert, sie kommen in neuen, unerwarteten bildlichen Konstellationen vor, welche die ganze Tragik des 20. Jahrhunderts in sich aufnehmen und sie in paradoxen, nicht selten verfremdenden poetischen Strukturen reflektieren. Die für die frühen Gedichte charakteristische daktylische Langzeile schrumpft allmählich zu kürzeren Versen, die Zeilenbrüche werden immer häufiger, die Strophen übersichtlicher und die Sprache insgesamt nüchterner — aus den Gedichten der Pariser Zyklen verschwindet die üppige Bildlichkeit der zahlreichen Epitheta und Genitivmetaphern fast gänzlich. So offenbart sich bereits in diesem Band die generelle Richtung der weiteren dichterischen Entwicklung Celans, die an einer „graueren Sprache“ orientiert ist.
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Die literaturkritische Reaktion auf das Erscheinen von Celans „Mohn und Gedächtnis“ war sehr rege, aber nicht eindeutig. Von einer Seite, erhielt der Gedichtband eine Reihe von begeisterten Besprechungen in den führenden Presseorganen und literarischen Zeitschriften des deutschen Sprachraums, in denen seine Bedeutung ausdrücklich hervorgehoben wurde. So schrieb Walter Lennig über den durchaus modernen Charakter Celanscher Gedichte, die „auf den Ton gefasster Trauer gestimmt“ seien, in denen „ein neuer Klang“ und „eine persönliche Ausdruckswelt“ zu hören seien, daher solle man hier nicht „um den Rang feilschen“, denn mit diesem Gedichtbuch habe sich Celan „an die Spitze aller jungen deutschen Lyriker gestellt“ („Tagesspiegel“ vom 31.5.1953); Helmuth de Haas unterstrich, dass Celans Erstlingswerk „einen unüberhörbaren Ton habe“, den man nicht mehr vergesse und bezeichnete seine Sprache als „mundfrisch“ und „beginnlich rein“ („Die neue literarische Welt“, 4. 1953, Nr. 1 3 vom 10. Juli); Karl Schwedhelm hob ausdrücklich hervor, dass es eine Sprache ist, die im deutschen Kulturraum noch „ungewohnt“ sei, denn „sie predigt nicht, sie singt nicht, und sie betreibt keine Landschaftsmalerei, vielmehr spricht sie innere Erfahrung durch Bilder aus, und diese Bilder zeugen durch ihre poetische Intensität neue Erfahrungen“ („Wort und Wahrheit“, Juli 1 953).
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Wolfgang Emmerich. Paul Celan. — Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 93 [Rowohlts Monographien]