Gehorsam öffnete ich meinen Koffer, nahm mein Adreßbuch raus und schrieb die ganze Liste ab, mitsamt Telefonnummern. Dann holte ich den Packen Fotos hervor und zeigte sie West.
«Würden die Ihnen helfen?«fragte ich.»Falls ja, dann leihe ich sie Ihnen, aber ich möchte sie zurück.«
West sah sie der Reihe nach durch, und ich wußte, wenn er überhaupt den Namen Detektiv verdiente, konnte er alle wesentlichen Eigenschaften der Betreffenden aus den Bildern ablesen. Ich fotografierte gern, am liebsten Portraits, und irgendwie gab mir die Kamera auch etwas Nützliches zu tun, wann immer die Familie zusammentraf. Mit einigen von ihnen unterhielt ich mich nicht gern; das Fotografieren lieferte mir einen plausiblen Grund, mich loszueisen und umherzuwandern.
Gab es einen gemeinsamen Nenner in vielen dieser Gesichter, so war es Unzufriedenheit, was ich traurig fand. Nur Ferdinand sah wirklich frei und unbeschwert aus, aber auch ihn kannte ich anders; und Debs, seine zweite Frau, eine hinreißende Blondine, größer als ihr Mann, blickte staunend in die Welt, als traue sie nicht ganz ihren schönen, noch nicht von Enttäuschung getrübten Augen.
Gervase hatte ich mit seinem einschüchterndsten Gesichtsausdruck, dem Drohstarren erster Klasse, abgelichtet, und ich sah keinen Nutzen darin, ihm jemals dieses Spiegelbild seiner Seele zu zeigen. Ursula wirkte lediglich unentschlossen, matt und irgendwie schuldbewußt, als fände sie es schon verkehrt, sich ohne Gervases Erlaubnis fotografieren zu lassen.
Berenice, die Frau von Thomas, war das genaue Gegenteil, wie sie mißbilligend ins Objektiv starrte, dreist und sarkastisch, unfehlbar destruktiv in allem, was sie von sich gab. Und Thomas, einen Schritt hinter ihr, sah nervös und gequält aus. Auf einem anderen Foto war Thomas allein, verlegen lächelnd, Resignation in den hängenden Schultern, Verzweiflung im Blick.
Vivien, Joyce und Alicia, die drei Hexen, unähnlich in den
Gesichtszügen, aber ähnlich im Ausdruck, waren konterfeit worden, als sie von der Kamera nichts ahnten und jede von ihnen gerade jemand anders mit Mißfallen betrachtete.
Alicia, in Tüll und Rüschen, trug ihr Haar noch jugendlich flott, mit einem hoch angesetzten Zopfband, von dem die vollen braunen Locken kaskadenartig auf ihre Schultern herabfielen. Fast schon sechzig, sah sie im Grunde jünger aus als ihr Sohn Gervase, und ohne die verkniffene Härte ihres Mundes hätte man sie noch als hübsch bezeichnen können.
Sie war mir in den sieben Jahren ihres Regiments eine gerechte Mutter gewesen, hatte für meine alltäglichen Bedürfnisse wie etwa Essen und Kleider gesorgt und mich nicht anders behandelt als Gervase und Ferdinand, aber es wäre mir nie eingefallen, Rat oder Trost bei ihr zu suchen. Sie hatte mich nicht geliebt, ich sie auch nicht, und nach der Scheidung hatten wir beide keinen Trennungsschmerz empfunden. Für die Art und Weise, wie sie Gervase, Ferdinand und Serena anschließend mit ihrem eigenen Groll vergiftete, hatte ich sie verabscheut. Ich hätte mindestens ebensogern wohlwollende Brüder und Schwestern gehabt wie Malcolm freundlich gesinnte Kinder. Nach zwanzig Jahren zog die tiefe Kränkung, die Alicia widerfahren war, immer noch leidvolle Kreise.
Serenas Foto zeigte sie, wie sie vor einem Jahr gewesen war, bevor sie durch Aerobic noch mehr abgenommen und eine geschlechtslos hager wirkende Figur bekommen hatte. Das blonde Haar ihrer Kindheit war leicht nachgedunkelt, und sie trug einen modischen Bubikopf, der sie jünger als sechsundzwanzig aussehen ließ. Ein langbeiniger Peter Pan, der nicht erwachsen werden will, dachte ich: eine Kindfrau mit einer mädchenhaften Stimme, die» Mami und Daddy «sagte und einen unersättlichen Appetit auf Kleider hatte. Ich überlegte flüchtig, ob sie noch Jungfrau war, und stellte ein wenig erstaunt fest, daß ich das einfach nicht wußte und keinen blassen Schimmer hatte.
«Die sind alle sehr interessant«, sagte West und warf mir einen
Blick zu.»Ich würde sie wirklich gern ausleihen. «Er sortierte den Stapel.»Wer ist das hier? Da stehen keine Namen auf der Rückseite.«
«Das sind Lucy und Edwin, und das sind Donald und Helen.«
«Danke. «Er notierte die Angaben sorgfältig in sauberer kleiner Schrift.
Malcolm streckte die Hand aus und ließ sich von West die Fotos geben. Nachdem er sie aufmerksam durchgesehen hatte, reichte er sie ihm wieder.
«Mir scheint, die kenne ich noch gar nicht«, sagte er.
«Sie sind alle unter drei Jahre alt.«
Sein Mund ging auf und schloß sich wieder. Er warf mir einen düsteren Blick zu, als hätte ich ihn gerade unfair in die Rippen geboxt.
«Wie findest du sie?«fragte ich.
«Ein Jammer, daß Kinder erwachsen werden.«
West lächelte müde und raffte die Listen und Fotos zusammen.
«Gut, Mr. Pembroke. Ich erledige das. «Er stand auf und schwankte leicht, aber als ich einen Schritt vortrat, um ihn zu stützen, winkte er ab.»Nur Schlafmangel. «Im Stehen sah er noch erschöpfter aus, als wäre das Grau seines Äußeren ihm bis ins Mark gedrungen.»Gleich morgen früh werde ich die ersten Pembrokes überprüfen.«
Es wäre kleinlich gewesen, zu erwarten, daß er noch diesen Nachmittag damit anfing, doch ich kann nicht behaupten, daß mir die Verzögerung gefiel. Ich bot ihm noch einen Drink und einen Imbiß zur Stärkung an, was er ablehnte, und so begleitete ich ihn zum Hoteleingang hinunter, steckte ihn in ein Taxi und sah ihn wie eine aus dem Leim gegangene Vogelscheuche auf dem Sitz zusammensinken.
Als ich wieder in die Suite kam, bestellte Malcolm mit der Hemmungslosigkeit, an die ich mich allmählich schon gewöhnte, Wodka und Belugakaviar beim Zimmerservice. Danach breitete er die Sporting Life aus, strich sie glatt und zeigte auf einen bestimmten Artikel.
«Da steht, daß am Sonntag in Paris das Arc de Triomphe stattfindet.«
«Ja, stimmt.«
«Dann laß uns hinfahren.«
«In Ordnung«, sagte ich.
Malcolm lachte.»Wir können uns doch ruhig was gönnen. Hier sind die Teilnehmer aufgelistet.«
Ich schaute nach. Es war eine Buchmacheranzeige mit den Eventualquoten.
«Welche Chance habe ich«, sagte Malcolm,»eins von diesen Pferden zu kaufen?«
«Ehm«, sagte ich.»Meinst du heute?«
«Natürlich. Nach dem Rennen eins zu kaufen hat ja wohl keinen Zweck, oder?«
«Nun ja.«
«Natürlich hat’s keinen. Der Sieger wird Millionen wert sein und die andern Kleingeld. Es muß vor dem Rennen sein.«
«Ich glaube zwar nicht, daß einer verkauft«, sagte ich,»aber versuchen können wir’s. Wie hoch willst du gehen? Der Favorit hat das Epsom-Derby gewonnen und soll angeblich für zehn Millionen syndikatisiert werden. Du müßtest eine ganze Ecke mehr bieten, bevor sie daran denken würden, ihn jetzt zu verkaufen.«
«Hm«, sagte Malcolm.»Wie schätzt du ihn als Pferd ein?«
Ich unterdrückte ein, zwei Japser und sagte mit ausdruckslosem Gesicht:»Das Pferd ist sehr gut, aber es hat ein äußerst strapaziöses Rennen hinter sich. Ich glaube nicht, daß es genug Zeit hatte, sich davon zu erholen, diesmal würde ich nicht auf es setzen.«
«Hast du schon mal auf ihn gesetzt?«fragte Malcolm neugierig.
«Ja, bei seinem Derbysieg, aber da war er auch Favorit.«
«Was glaubst du denn, wer das Arc de Triomphe gewinnt?«
«Im Ernst?«
«Natürlich im Ernst.«
«Ein französisches Pferd, Meilleurs Vffiux.«
«Können wir das kaufen?«
«Ausgeschlossen. Sein Besitzer liebt Pferde, liebt den Sieg mehr als den Profit und ist ungeheuer reich.«
«Bin ich auch«, sagte Malcolm einfach.»Ich kann nichts dafür, daß ich Geld mache. Früher war’s eine Leidenschaft, jetzt ist es Gewohnheit. Aber die Sache mit Moira, weißt du, die hat mich aufgerüttelt. Ich dachte plötzlich, daß mir vielleicht nicht mehr so wahnsinnig viel Zeit bleibt, in der ich noch gesund und kräftig genug bin, um das Leben zu genießen. Die ganzen Jahre hindurch habe ich den Kies angehäuft, und wozu? Damit meine verfluchten Kinder mich deswegen umbringen? Daß ich nicht heule! Kauf du mir ein Pferd für das Rennen am Sonntag, Junge, und wir gehen hin und brüllen es aus vollem Hals ins Ziel.«