Ich fuhr am nächsten Tag in die abgelegene Stadt in Suffolk, deren Hauptgeschäft der Sport der Könige ist, und in der bunten, zielstrebigen Menschenmenge sah ich meinen Vater barhäuptig vor der Auktionshalle stehen, in einen Katalog vertieft.
Er sah unverändert aus. Grauer Bürstenschnitt, glatter brauner
Vikunjamantel, knielang, anthrazitfarbener Straßenanzug, Seidenkrawatte, blanke schwarze Schuhe; selbstbewußt reihte er sich in seiner städtischen Eleganz in die zwanglosere Eleganz des ländlichen Rahmens ein.
Es war ein sonniger Tag, frisch und klar, der Himmel ein kaltes, wolkenloses Blau. Ich ging in meiner selbstgewählten Arbeitskleidung zu ihm hinüber: lange Reithose, kariertes Wollhemd, olivgrüne Steppjacke, Tweedmütze. Ein äußerlicher Gegensatz, der bis in die Persönlichkeit hineinreichte.
«Guten Tag«, sagte ich neutral.
Er hob die Augen, und sein Blick war so blau wie der Himmel.
«Du bist also gekommen.«
«Ja… schon.«
Er nickte unbestimmt, während er mich musterte.»Du siehst älter aus«, sagte er.
«Drei Jahre.«
«Drei Jahre, und eine krumme Nase«, bemerkte er nüchtern.»Ich nehme an, die hast du dir beim Sturz von einem Pferd gebrochen?«
«Nein… Du hast sie mir gebrochen.«
«So?«Er schien nur leicht überrascht zu sein.»Du hattest es verdient.«
Ich gab keine Antwort. Er zuckte die Achseln.»Möchtest du Kaffee?«
«Okay.«
Wir hatten uns nicht angefaßt, dachte ich. Keine Umarmung, kein Händedruck, kein flüchtiger Klaps auf den Arm. Drei Jahre Schweigen waren nicht ohne weiteres zu überbrücken.
Er brach nicht in Richtung des allgemeinen Erfrischungsraums auf, sondern steuerte einen der nichtöffentlichen Räume an, die Vorzugsgästen vorbehalten waren.
Ich ging hinter ihm her und erinnerte mich amüsiert, daß er, wo immer er hinkam, rund zwei Minuten brauchte, um sich Einlaß in die vornehmsten Schlupfwinkel zu verschaffen.
Die Auktionshalle von Newmarket hatte die Form eines Amphitheaters; getreppte Sitzreihen erhoben sich rund um den ebenerdigen Ring, in dem jedes Pferd während der Versteigerung herumgeführt wurde. Unter den Sitzreihen und in einem großen angrenzenden Gebäude befanden sich Räume, die von Versteigerern und Turfagenten als Büros genutzt wurden oder in denen Handelsunternehmen wie etwa Ebury Jewellers, die derzeitigen willigen Gastgeber Malcolms, Kunden betreuten.
Ich war nur die schlichten Betonkästen der Turfbüros gewöhnt. Eburys Niederlassung war im Gegensatz dazu als teurer Ausstellungsraum gestaltet; gut beleuchtete Vitrinen mit strahlendem Silber und glitzernden Nippessachen zogen sich an drei Wänden entlang, alles fest unter Verschluß, doch verführerisch sichtbar. In der Mitte des Raumes stand auf braunem Teppichboden ein langer polierter Tisch mit lederbezogenen Lehnstühlen drum herum. An jedem Platz lag säuberlich eine in Leder gefaßte Löschunterlage neben einem vergoldeten Becher mit Schreibstiften, so daß der Eindruck entstand, die Kunden brauchten hier nichts weiter mitzubringen als ihr Scheckbuch.
Ein gewandter junger Mann begrüßte Malcolm eilfertig, aber diskret und bot Getränke und Leckereien von einem gut ausgestatteten Buffettisch an, der den größten Teil der vierten Wand einnahm. Malcolm und ich nahmen je eine Tasse Kaffee und setzten uns an den Tisch, ich zumindest nicht ohne Verlegenheit. Malcolm spielte mit seinem Kaffeelöffel. Eine korpulente, laute Dame kam herein und begann sich mit dem gewandten jungen Mann darüber zu unterhalten, daß sie einen ihrer Hunde in Silber gegossen haben wollte. Malcolm hob kurz den Blick zu ihnen und sah dann wieder auf seine Tasse.
«Welche Art von Hilfe?«sagte ich.
Wegen des Treffpunkts, den er ausgewählt hatte, erwartete ich, er würde antworten, daß er im Zusammenhang mit Pferden Hilfe brauchte, aber etwas so Unkompliziertes war es offenbar nicht.
«Ich will dich bei mir haben«, sagte er.
Ich runzelte verwirrt die Stirn.»Wie meinst du das?«
«Bei mir«, sagte er.»Die ganze Zeit.«
«Ich verstehe nicht.«
«Ist auch nicht anzunehmen«, sagte er. Er sah mir ins Gesicht.»Ich werde ein bißchen verreisen. Ich möchte, daß du mitkommst.«
Ich antwortete nicht gleich, und er sagte jäh aufbrausend:»Zum Donnerwetter, Ian, ich verlange doch nicht die Welt. Ein wenig Zeit sollst du erübrigen, ein wenig Aufmerksamkeit, das ist alles.«
«Warum jetzt, und warum ich?«
«Du bist mein Sohn. «Er hörte auf, mit dem Löffel zu spielen, und ließ ihn auf die Löschunterlage fallen, wo ein runder Fleck entstand. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.»Ich vertraue dir. «Er schwieg.»Ich brauche jemand, dem ich trauen kann.«
«Warum?«
Er erklärte es mir nicht. Er sagte:»Kannst du dir einige Zeit freinehmen? Urlaub machen?«
Ich dachte an den Trainer, dem ich gerade gekündigt hatte, nachdem seine Tochter mir meinen Job zur Hölle gemacht hatte, um ihren Verlobten hineinzuboxen. Das hatte ihn für mich unhaltbar gemacht. Es war nicht nötig, daß ich sofort woanders unterkam; nur die Miete mußte ich aufbringen. Mit dreiunddreißig hatte ich bei drei verschiedenen Trainern gearbeitet und fand, ich wurde allmählich zu alt, um weiter als Assistent tätig zu sein. Der nächste Schritt wäre natürlich gewesen, selbst Trainer zu werden, ein heikles Unterfangen ohne Geld.
«Woran denkst du?«fragte Malcolm.
«Mehr oder weniger, ob du mir eine halbe Million Pfund leihst.«
«Nein«, sagte er.
Ich lächelte.»Hab ich mir gedacht.«
«Ich bezahle deine Reise- und Hotelkosten.«
Auf der anderen Zimmerseite gab die laute Dame dem gewandten jungen Mann ihre Adresse. Eine Kellnerin war erschienen und lud frische Sandwiches und Alkoholnachschub auf den weiß gedeckten Tisch. Müßig sah ich ihr ein paar Sekunden zu und blickte dann wieder in Malcolms Gesicht, wo ich einen Ausdruck gewahrte, der sich nur als Besorgnis deuten ließ.
Ich war unerwartet gerührt. Ich hatte mich ja nie mit ihm zanken wollen; ich hatte gewollt, daß er Moira so sah wie ich, als eine berechnende, honigsüße Schmeichlerin, die auf sein Geld aus war und seine Erschütterung nach Coochies Tod dazu benutzt hatte, sich bei ihm beliebt zu machen, indem sie immer wieder zu ihm kam, ihr Mitgefühl bekundete und sich erbot, für ihn zu kochen. Malcolm, in tiefer Trauer, war hilflos gewesen und dankbar und hatte anscheinend kaum bemerkt, wie sie anfing, sich in Gesellschaft bei ihm einzuhaken und» wir «zu sagen. Ich hatte die ganzen drei stummen Jahre hindurch mit meinem Vater Frieden schließen wollen, aber ich ertrug den Gedanken nicht, zu ihm zu gehen und die affektiert lächelnde Moira an Coochies Stelle zu sehen, selbst wenn er mich zur Tür hereingelassen hätte.
Jetzt, wo Moira tot war, war Frieden vielleicht möglich, und es kam mir vor, als ob er ihn auch wollte. Flüchtig überlegte ich, daß Versöhnung nicht sein Hauptziel war, sondern nur ein Mittel zu einem anderen Zweck, aber es genügte trotzdem.
«Ja«, sagte ich,»in Ordnung. Ich kann mir Urlaub nehmen.«
Die Erleichterung war ihm anzusehen.»Gut! Gut! Dann komm mit, ich will vielleicht ein Pferd kaufen. «Er stand auf, plötzlich voller Energie, und wedelte mit seinem Katalog.»Was für eins empfiehlst du?«
«Wozu in aller Welt brauchst du ein Pferd?«
«Na, damit es Rennen läuft.«
«Aber das hat dich noch nie interessiert.«
«Jeder sollte ein Hobby haben«, sagte er munter, obwohl er sein Lebtag noch keins gehabt hatte.»Mein Hobby sind Galopprennen. «Und nachträglich setzte er hinzu:»Ab jetzt«, während er die Tür anpeilte.
Der gewandte junge Mann löste sich von der Hundedame und bat Malcolm, ihn bald wieder zu beehren. Malcolm versicherte ihm, das werde er tun, ließ ihn stehen und marschierte zu einer der Vitrinen hinüber.
«Bevor du gekommen bist, habe ich einen Pokal gekauft«, sagte er mit dem Rücken zu mir.»Willst du mal sehen? Ähnlich wie der da. «Er zeigte mit dem Finger.»Sie gravieren ihn gerade.«