Am Freitag bestand er trotz meiner Appelle an seine Vernunft darauf, mich zum Pferderennen nach Sandown zu begleiten.
«Du bist hier sicherer«, sagte ich,»in der Suite.«
«Ich würde mich nicht sicherer fühlen.«
«Auf der Rennbahn kann ich nicht bei dir bleiben.«
«Wer weiß denn schon, daß ich dahin will?«
Ich starrte ihn an.»Jeder, der annimmt, daß wir jetzt zusammen sind, könnte das wissen. Wo ich zu finden bin, steht in der Zeitung.«
«Dann fahr nicht hin.«
«Ich fahre. Du bleibst hier.«
Ich sah jedoch ein, daß die starke unterschwellige Besorgnis, die er meistens zu verdrängen suchte, in akute Nervosität umschlagen würde, wenn ich ihn für mehrere Stunden allein ließ, und daß er sich die Zeit mit etwas viel Dümmerem als einem Besuch auf der Rennbahn vertreiben könnte — etwa indem er sich einredete, jeder aus seiner Familie würde ein Geheimnis hüten, wenn er darum bat.
Also nahm ich ihn von London mit nach Süden und schleuste ihn durch den Eingang für die Jockeys auf den Platz vor der Waage, wo seine Aussicht auf einen ungefährlichen Nachmittag sich dadurch erhöhte, daß er wieder einmal einen» Kumpel «traf und sofort zum Lunch ins Allerheiligste geladen wurde.
«Hast du auf der ganzen Welt Kumpel?«fragte ich.
«Aber sicher«, grinste er breit.»Jeder, den ich fünf Minuten kenne, ist mein Kumpel, wenn ich mit ihm auskomme.«
Ich glaubte ihm. Malcolm vergaß man nicht leicht, und es war auch nicht schwer, ihn zu mögen. Ich sah die aufrichtige Freude im Gesicht seines jetzigen Gastgebers, als sie plaudernd davongingen, und dachte bei mir, daß Malcolm wohl in jedem Beruf Erfolg gehabt hätte, daß der Erfolg zu seinem Wesen gehörte wie die Großzügigkeit, die krasse Unbesonnenheit.
Ich startete im zweiten Lauf, einem Jagdrennen für Amateure, und war wie üblich vorsichtshalber schon zwei Stunden früher eingetroffen. Ich wandte mich von Malcolms entschwindendem Rücken ab, um nach dem Besitzer des Pferdes, das ich reiten sollte, Ausschau zu halten, und eine beleibte Dame in einem weiten braunen Cape versperrte mir den Weg. Von allen Mitgliedern der Familie war sie die letzte, die ich auf einem Rennplatz zu sehen erwartet hätte.
«Ian«, sagte sie vorwurfsvoll, fast als hätte ich behauptet, ich wäre jemand anders.
«Hallo.«
«Wo bist du gewesen? Warum gehst du nicht ans Telefon?«
Lucy, meine ältere Halbschwester. Lucy, die Dichterin.
Lucys Mann Edwin war wie stets an ihrer Seite zu finden; es wirkte ein wenig, als habe er kein Eigenleben. Der Egel, hatte Malcolm ihn mitunter abschätzig genannt.
Lucy war, was ihr Gewicht betraf, mit einer Unbefangenheit gesegnet, die auf Vergeistigung und übertriebenem Glauben an Reformkost beruhte.»Nüsse und Rosinen sind doch gesund«, pflegte sie zu sagen, während sie sie kiloweise aß.»Körperliche Eitelkeit ist wie intellektuelle Überheblichkeit eine Krankheit der Seele.«
Sie war zweiundvierzig, meine Schwester, mit vollem, glattem, schlicht frisiertem braunem Haar, großen braunen Augen, den hohen Wangenknochen ihrer Mutter und der kräftigen Nase ihres Vaters. Auf ihre Art war sie eine ebenso auffallende Erscheinung wie Malcolm, und das nicht nur wegen ihrer formlosen Kleider und dem bewußten Verzicht auf Kosmetika. Malcolms Vitalität pulsierte auch in ihr, wenngleich in anderen Bahnen; sie drückte sich in sprachlicher und gedanklicher Kraft aus.
Früher hatte ich mich oft gefragt, warum eine so begabte und willensstarke Frau keinen geistig ebenbürtigen Partner geheiratet hatte, aber in den letzten Jahren neigte ich zu der Annahme, daß sie auf eine Null wie Edwin verfallen war, weil gerade die fehlende Konkurrenz ihr ermöglichte, ganz sie selbst zu sein.
«Edwin macht sich Sorgen«, sagte sie,»daß Malcolm den Verstand verliert.«
Statt» Edwin «lies» Lucy«, dachte ich. Es war ein Trick von ihr, die eigenen Gedanken ihrem Mann zuzuschreiben, wenn sie annahm, daß ihr Publikum sie nicht gern hörte.
Edwin schaute mich verlegen an. Er war durchaus ein gutaussehender Mann, aber von schäbigem Charakter. Wenn man tolerant war, konnte man das damit entschuldigen, daß seine und Lucys Finanzen dauernd auf des Messers Schneide standen. Ich war mir nicht mehr sicher, ob er tatsächlich keine Anstellung finden konnte oder ob Lucy ihn auf irgendeine Weise davon abhielt, es zu versuchen. Jedenfalls brachte ihr das Schreiben mehr Prestige als Geld ein, und Edwin war es inzwischen leid, die durchgewetzten Ellbogen seiner Sakkos mit schlecht aufgenähten dünnen Lederflicken zu kaschieren.
Edwin schien tatsächlich besorgt zu sein, aber hätte er sich allein gesorgt, wären sie nicht gekommen.
«Es ist unfair von ihm«, sagte er und meinte damit Malcolm.»Lucys Treuhandfonds ist Jahre vor der Inflation eingerichtet worden und wirft nicht mehr so viel ab wie früher. Er sollte das wirklich korrigieren. Ich hab es ihm schon mehrmals gesagt, aber er hört einfach nicht. Und jetzt verschleudert er sein Geld mit vollen Händen, als hätten seine Erben keinerlei Rechte. «Empörung zitterte in seiner Stimme, aber auch die ganz unverkennbare Furcht vor einer Ungewissen Zukunft, wenn das
Vermögen, auf das er so lange gezählt hatte, ihm sozusagen auf der Zielgeraden noch entrissen würde.
Ich seufzte und enthielt mich der Bemerkung, daß Malcolms Erben meiner Ansicht nach keine Rechte hatten, solange er lebte. Ich sagte nur beschwichtigend:»Er wird euch schon nicht verhungern lassen.«
«Darum dreht sich’s nicht«, sagte Edwin mit leisem Zorn.»Es dreht sich darum, daß er Lucys altem College eine ungeheure Summe zur Schaffung von Graduiertenstipendien für Lyriker gestiftet hat.«
Ich blickte von seinem verkniffenen, bebenden Mund ins Gesicht von Lucy und sah Scham, wo vielleicht Stolz hätte sein sollen. Scham, dachte ich, weil sie plötzlich Edwins Ansichten teilte, obwohl diese ihrer gewohnten Verachtung für den Materialismus so zuwiderliefen. Vielleicht hatte sogar Lucy sich auf ein sorgenfreies Alter gefreut.
«Du solltest dich geehrt fühlen«, sagte ich.
Sie nickte unglücklich.»Das tue ich.«
«Ach was«, sagte Edwin.»Es ist eine Schande.«
«Das Lucy-Pembroke-Stipendium«, sagte ich langsam.
«Ja. Woher weißt du das?«fragte Lucy.
Und ein Serena-Pembroke-Stipendium gab es sicher auch. Und den Coochie-Pembroke-Memorial-Challenge-Pokal.
«Worüber lächelst du?«wollte Lucy wissen.»Du kannst wohl nicht behaupten, daß du’s im Leben bisher weit gebracht hast, oder? Wenn Malcolm uns nichts vermacht, karrst du Pferdemist, bis du vor Altersschwäche umfällst.«
«Es gibt schlimmere Arbeit«, sagte ich gelassen.
Um uns herum waren Pferde, Rennbahnlärm und ein Himmel voll böiger frischer Luft. Ich wußte, ich konnte mein Leben glücklich mit nahezu jeder Beschäftigung verbringen, die mich an Orte wie Sandown Park führte.
«Du hast dein ganzes Talent vergeudet«, sagte Lucy.
«Mein einziges Talent ist Reiten.«
«Du bist blind und vernagelt. Du bist der einzige männliche Pembroke, der Grips hat, und du bist zu faul, ihn zu benutzen.«
«Besten Dank«, sagte ich.
«Das war kein Kompliment.«
«Nein, ist mir schon klar.«
«Joyce sagt, du wüßtest bestimmt, wo Malcolm ist, da ihr euren Streit endlich begraben habt, aber du würdest es natürlich nicht zugeben«, sagte Lucy.»Sie meinte, du wärst heute um diese Zeit hier, falls ich dich sprechen wollte.«
«Und das lag dir sehr am Herzen.«
«Sei nicht so schwer von Begriff. Du mußt ihn bremsen. Du bist der einzige, der’s nicht versuchen wird… aber du mußt es versuchen, Ian, und zwar mit Erfolg — wenn nicht in deinem Interesse, dann für den Rest der Familie.«