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Sein Blick heftete sich kurz auf mein Gesicht, um meine Reaktion zu sehen. Ich glaube nicht, daß eine da war. Joyce nannte mich zwar regelmäßig» Liebling«, konnte aber gleichzeitig recht verletzend sein, und ich hatte ein Leben lang Zeit gehabt, mich zu panzern.

Ferdinand stand mir zufällig gerade am nächsten. Aus einem Impuls heraus sagte ich ihm ins Ohr:»Ferdinand, wer hat Moira umgebracht?«

Er hörte auf, nach Lucy und Edwin zu suchen, und wandte mir abrupt seine volle Aufmerksamkeit zu. Ich konnte zwar sehen, wie er in der Schweigepause, bevor er antwortete, überlegte, aber ich hatte keinen Schlüssel zu seinen Gedanken. Im Wesen war er mir von allen Brüdern am verwandtesten, doch die anderen waren offene Bücher im Vergleich zu ihm. Er war geheimnistuerisch, und vielleicht war ich das auch. Er wollte gern ein Küchenwandversteck für sich allein bauen, nachdem ich meins gebaut hatte, nur daß Malcolm damals sagte, wir müßten teilen, eins wäre genug. Ferdinand hatte geschmollt, mich eine Zeitlang gemieden und über die toten Ratten von Gervase gefeixt. Ich fragte mich, bis zu welchem Grad ein Mensch derselbe blieb, der er in frühester Jugend gewesen war. Konnte man getrost davon ausgehen, daß sich einer nicht grundlegend geändert hatte? Würde man, wenn die einzelnen Lebensschichten sich abschälen ließen, zu dem vertrauten Kind gelangen? Ich wollte, daß Ferdinand so war, wie ich ihn mit zehn, elf, zwölf gekannt hatte: ein Junge, der unermüdlich trachtete, im Kopfstand radzufahren — und keinesfalls ein Mörder.

«Ich weiß nicht, wer Moira umgebracht hat«, sagte er schließlich.»Alicia meint, du warst es. Sie hat der Polizei gesagt, du müßtest es gewesen sein.«

«Kann ich aber nicht.«

«Sie sagt, die Polizei könnte dein Alibi knacken, wenn sie sich Mühe gäbe.«

Ich wußte, daß sie sich wirklich darum bemüht hatten: Jede Lücke in meinem Tagesablauf hatten sie durchleuchtet, und ihr Benehmen, ihre Verdächtigungen hatten mir zugesetzt.

«Und was meinst du?«fragte ich neugierig.

Seine Augenlider flatterten.»Alicia sagt…«

Ich unterbrach ihn:»Deine Mutter sagt viel zuviel. Kannst du nicht selber denken?«

Er war beleidigt, was auch sonst. Er hakte sich bei Debs und Serena ein und gab eine Erklärung ab.»Wir drei gehen jetzt ein Sandwich essen und was trinken. Wenn du vom Pferd stürzt und dich dabei umbringst, weint dir niemand nach.«

Ich lächelte ihn an, obwohl sein Tonfall keineswegs scherzend gewesen war.

«Und gib dich nicht so blöd versöhnlich«, sagte er.

Er wirbelte die Mädchen herum und marschierte mit ihnen los. Ich fragte mich, wieso er den Tag freibekommen hatte, aber wahrscheinlich schafften das die meisten Leute, wenn sie es darauf anlegten. Er war Statistiker und bildete sich weiter zum Versicherungsmathematiker. Wie groß mochte die Wahrscheinlichkeit sein, daß ein zweiunddreißigjähriger Statistiker, dessen Frau purpurne Nägel hatte, zugegen war, wenn sein Bruder sich in Sandown Park den Hals brach?

Donald und Helen sagten, sie würden ebenfalls ein Sandwich vertilgen (Donalds Worte), und Helen fügte ernst hinzu, ihr sei schon wichtig, daß ich das Rennen heil überstehe, egal, was Ferdinand behaupte.

«Danke. «Ich hoffte ihr glauben zu können und kehrte auf eine Denkpause in den Waageraum zurück.

Lucy und Edwin würden vielleicht vor Ablauf des Nachmittags heimfahren, ebenso Donald und Helen, aber Ferdinand nicht. Er besuchte gern Pferderennen. Bei einer freundlicheren Gelegenheit hatte er mir gesagt, an ihm sei ein Buchmacher verlorengegangen; er war blitzschnell im Ausrechnen von relativen Chancen.

Das Problem, wie ich Malcolm ungesehen vom Rennplatz lotsen sollte, endete nicht bei den Familienmitgliedern, die ich gesprochen hatte. Wenn sie alle so sicher waren, daß ich wußte, wo Malcolm war, konnte einer von den anderen, ein Schlauerer, sich hinter den Bäumen versteckt halten, um mir nachzufahren, wenn ich aufbrach.

Es gab Hunderte von Bäumen in Sandown.

Das erste Rennen lief ab, und zur gegebenen Zeit ging ich hinaus, um Young Higgins in das zweite zu führen.

Jo hatte wie gewohnt rote Backen vor Freude und Hoffnung. George war brummig sachbezogen, auch das wie gewohnt, und ermahnte mich, besonders an dem schwierigen ersten Hindernis aufzupassen und die Steigung vor der Tribüne beim erstenmal sacht anzugehen.

Ich verbannte Malcolm aus meinen Gedanken, Mord ebenso, und es fiel mir nicht schwer. Der Himmel war von einem klaren, fernen Blau, die Luft frisch vom nahen Herbst. Das Laub an all den Bäumen wurde gelb, und die Bahn wartete, grün und fest, mit den weit auseinandergezogenen Hindernissen, die zum Überspringen lockten. Einfache Dinge; und da draußen lernte man seine Grenzen kennen, was ich meistens eher aufregend als furchterregend fand. Jedenfalls bis jetzt.

Jo sagte:»Nur acht Starter, ideal«, und George sagte, wie immer:»Daß du im Einlaufbogen nicht zu weit zurückhängst.«

Ich sagte, ich würde mich bemühen.

Jos Augen glitzerten wie die eines Kindes in ihrem sechzigjährigen Gesicht, und mich wunderte, daß sie in der ganzen Zeit nichts von der gespannten Erwartung solcher Augenblicke verloren hatte. Es gab vielleicht Schurken auf allen Ebenen des Galopprennsports, aber es gab auch Leute wie Jo und George, deren Güte und Wohlwollen wie Leuchtfeuer strahlten; durch sie war der Sport alles in allem intakt und ein Vergnügen geblieben.

Leben und Tod mochten in der normalen Welt etwas Ernstes sein, doch auf dem Rücken eines schnelles Steeplers, an einem Freitagnachmittag in der Herbstsonne, waren Leben und Tod ein fröhliches Glücksspiel — ein Schritt zur Gesundheit auf einem kranken Planeten.

Ich zog den Riemen meiner Kappe fest, ließ mich auf Young Higgins werfen und ritt ihn auf das Geläuf. Wäre ich Profi gewesen, hätte sich die stolze Freude, die dieser Augenblick mir immer eingab, vielleicht verflüchtigt: Man konnte nicht mehr wie ein Irrer in die Runde oder auch nur in sich hineingrinsen, wenn man bei Kälte, auf hartem Boden und auf schlechten Pferden reihenweise Pflichtrennen zu absolvieren hatte.

Young Higgins wurde seinem Namen gerecht, wippte auf den

Zehen und warf den Kopf in bester Laune zurück. Wir stellten uns mit den sieben anderen auf, deren Reiter ich alle aus vielen früheren Begegnungen kannte. Amateure gab es in jeder denkbaren Gestalt: Heute nachmittag war eine Mutter dabei, eine Tante und ein Großvater, außerdem ein Journalist, ein Grafensohn, ein Oberstleutnant, ein Springreiter und ich. Von der Tribüne aus hätte nur ein scharfes Auge den einen vom anderen unterscheiden können, ohne sich an unseren» Farben «zu orientieren, und darum ging es eben beim Amateurrennsport: die Gleichheit, die einheitliche Anonymität der Startmaschine.

Die Bänder schnellten hoch, und wir nahmen die drei Meilen in Angriff, fast zwei volle Runden mit zweiundzwanzig Sprüngen und einer bergauf gehenden Einlaufgeraden.

Das Pferd der Tante, zu stark für sie, nahm die Sache in die Hand und hatte prompt einen beachtlichen Vorsprung, um den sich weiter niemand kümmerte. Das Pferd der Tante drosch auf das schwierige erste Hindernis am Hang zu und verstolperte es, was ihm eine Lehre war und seiner Reiterin wieder Oberwasser gab, und danach geschah etwa eine Meile hindurch nichts Dramatisches. Mein allererstes Rennen war für mich in einer wilden, schweißtreibenden Hast abgelaufen, die mir den Atem nahm und mich erschöpfte, doch mit der Erfahrung hatte die Zeit sich gedehnt, bis man hinschauen und denken und sogar dabei reden konnte.

«Mach Platz, verdammt«, rief der Oberstleutnant neben mir.

«Tagchen«, meinte der Grafensohn leutselig auf der anderen Seite, immer ein Clown, der seine Umgebung aufheiterte.

«Beweg deinen Arsch!« schrie die Mutter ihr Pferd an und verpaßte ihm eines auf diesen Bereich seiner Anatomie. Sie ritt gut, haßte langsame Pferde, haßte das Verlieren, wog stramme 64 Kilo und verachtete den Springreiter, den sie schon oft der Unfähigkeit bezichtigt hatte.