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«Oder uns gar nicht erinnern?«sagte Lucy.

«Dann muß Malcolm damit leben«, meinte Joyce knapp.

«Damit zu leben wäre das kleinere Übel«, sagte ich trocken.»Es geht darum, daß er nicht sterben will.«

Sie starrten mich schweigend an. Die Realität der Ermordung Moiras war für sie alle wohl genau wie für mich eine langsam brennende Zündschnur gewesen, anfangs scheinbar ohne böse Auswirkungen, dann aber doch mit zunehmenden Sorgen verbunden. Vielleicht hatten sie sich zunächst wie ich an die Theorie vom motivlosen fremden Eindringling geklammert, da die Alternative schlicht undenkbar war, doch in den Wochen, die seitdem verstrichen waren, mußten ihnen zumindest Zweifel gekommen sein. Die Zündschnur, begriff ich, würde bald von lebhaften Verdächtigungen schmoren, die das wacklige Familiengefüge zerreißen und schließlich in alle Winde zerstreuen konnten.

Würde mir das etwas ausmachen? fragte ich mich. Nicht, solange ich noch Malcolm hatte… und vielleicht Ferdinand… und Joyce… und vielleicht Lucy oder auch Thomas… Serena… Wäre es schlimm, wenn ich Gervase nie mehr zu Gesicht bekäme?

Die Antwort war überraschenderweise: Ja, es würde mir etwas ausmachen. So unvollkommen, streitsüchtig, wacklig die Familie auch sein mochte — sie war dennoch der Ursprung und der Rahmen, die Geographie unseres Lebens. Moira, die von niemand Betrauerte, war schon dabei, diese Karte umzuschreiben, und wenn ihr Mörder unentdeckt blieb, wenn Malcolm selbst — ich durfte gar nicht daran denken — ermordet wurde, dann gab es keine Heilung mehr und keine Besserung, kein telefonisches Nachrichtennetz mehr und keinen Kontakt, sondern nur noch einen Haufen getrennter Galaxien, die unerbittlich auseinanderstrebten.

Der große Knall, dachte ich, stand noch aus. Es kam darauf an, die Zündschnur vor der Explosion zu kappen, und das war alles gut und schön, aber wo war der kritische Punkt, und wieviel Zeit blieb uns?

«Spendier mir was zu trinken, Liebling«, befahl Joyce.»Wir sitzen schwer in der Tinte.«

Sie ging los, doch die anderen machten keine Anstalten, ihr zu folgen. Ich betrachtete die sieben Gesichter, in denen verschiedene Grade von Besorgnis zu lesen waren, und sah, wie sie sich schon ein wenig voneinander entfernten, nicht als zusammengehörige Gruppe, sondern Donald und Helen als Ehepartner, Lucy und Edwin als Paar, Ferdinand, Debs und Serena als das jüngste Trio.

«Ich werde Malcolm von euren Befürchtungen erzählen«, sagte ich.»Und von euren Bedürfnissen.«

«O ja, tu das bitte«, sagte Helen eindringlich.

«Und von Gervases Vorschlag«, setzte Ferdinand hinzu.

«Nun komm doch, Liebling«, gebot Joyce über ihre Schulter.»Wo geht’s zur Bar?«

«Lauf, lauf, Brüderchen«, meinte Lucy ironisch.

Serena sagte:»Muttilein wartet«, und Debs kicherte leise. Ich dachte daran, die Stellung zu halten und Joyce zurückzurufen, aber was sollte es? Die Sticheleien konnte ich wegstecken, damit hatte ich jahrelang gelebt. Kläglich die Achseln zuckend, ging ich hinter Joyce her und spürte förmlich das mitleidige Lächeln in meinem Nacken.

Ich lotste Joyce in die belebte Club-Bar, wo auf einer Seite ein Büffettisch mit Salaten und Brot stand und ein dicker Mann in Kochuniform Truthähne, Rinderkeulen und Schinken zerteilte. Hungrig vom Reiten, schlug ich ihr vor, etwas zu essen, doch sie winkte ab, als wäre das unangebracht. Statt dessen besorgte ich ihr einen großen Wodka mit Tonic und für mich ein Ginger Ale, und an einem abgelegenen Tisch fanden wir zwei freie Stühle. Nachdem sie sich mit einem einzigen kurzen Blick vergewissert hatte, daß sie in dem allgemeinen Trubel niemand belauschen würde, beugte Joyce sich vor, bis die Krempe ihres grünen Huts praktisch meine Stirn berührte, und stürzte sich in ihr Verhör.

«Wo ist dein Vater?«sagte sie.

«Wann hast du zuletzt deinen Vater gesehen?«verbesserte ich.

«Wovon in aller Welt redest du?«

«So heißt doch das Gemälde von Orchardson.«

«Laß die Mätzchen. Wo ist Malcolm?«

«Ich weiß es nicht«, sagte ich.

«Du lügst.«

«Warum willst du ihn denn finden?«

«Warum?« Sie war erstaunt.»Weil er von Sinnen ist. «Sie griff in ihre geräumige Handtasche und holte einen Umschlag hervor, den sie mir hinhielt.»Lies das mal.«

Ich öffnete den Umschlag und fand einen kleinen Zeitungsschnipsel darin, eine Kurzmeldung ohne Überschrift und ohne Provenienz. Sie lautete:

Zur zweiten Garnitur zählt der britische Teilnehmer Blue Clancy, Zweiter im Derby letzten Jahres und diesjähriger Gewinner des King Edward VII Stake in Royal Ascot. Besitzer Ramsey Osborn sicherte sich gestern gegen Wettverluste beim

Arc, indem er seinen vierjährigen Hengst zu 50 Prozent an den Arbitragehändler Malcolm Pembroke verkaufte, der sich erst diese Woche bei den Premium-Auktionen mit dem Erwerb eines 2-Millionen-Guineen-Jährlings an Vollblüter herangewagt hat.

Auweia, dachte ich.

«Wo stammt das her?«fragte ich.

«Was liegt daran, wo’s herstammt. Aus der neuen >Turfgeschichten<-Spalte im Daily Towncrier. Ich war heute morgen gerade beim Kaffeetrinken, als ich es las, und habe fast meine Zunge verschluckt. Entscheidend ist nur: Stimmt es?«

«Ja«, sagte ich.

«Wie bitte?«

«Ja«, wiederholte ich.»Malcolm hat eine 50-Prozent-Beteiligung an Blue Clancy gekauft. Was ist dagegen einzuwenden?«

«Manchmal«, ereiferte sich meine Mutter,»bist du so blöd, daß ich dir eine langen könnte. «Sie holte Luft.»Was ist überhaupt ein Arbitragehändler?«

«Einer, der Geld macht, indem er billig kauft und teuer verkauft.«

«Aha. Gold.«

«Und Devisen. Und Aktien. Und eventuell Rennpferde.«

Sie war nicht besänftigt.»Du weißt ganz genau, daß er bloß sein Geld rauswirft, um uns zu ärgern.«

«Es gefällt ihm nicht, daß Moira umgebracht wurde. Es gefällt ihm auch nicht, daß man ihn überfallen hat. Ich glaube, er wird so lange prassen, bis er weiß, ob wir einen Mörder in der Familie haben oder nicht, und selbst dann…«Ich lächelte.»Allmählich kommt er auf den Geschmack.«

Joyce blickte starr.»Moira ist von einem Eindringling ermordet worden.«

Ich antwortete nicht.

Sie nahm einen großen Schluck Wodka-Tonic und sah mich kalt an. Sie war kaum zwanzig gewesen, als ich geboren wurde, kaum neunzehn, als Malcolm sie Hals über Kopf aus einem Antiquitätenladen in Kensington entführt und innerhalb eines Monats in seinem Haus untergebracht hatte, mit einem neuen Ehering und zu wenig Beschäftigung.

Malcolm, der mir hin und wieder von dieser Zeit erzählte, hatte einmal gesagt:»Sie konnte mit Zahlen umgehen, verstehst du? Und beim Kartenspielen war sie mir über. Und sie sah so verdammt brav aus. So jung. Kein bißchen herrschsüchtig, wie sie es später wurde. Ihre Leute hielten mich für einen Emporkömmling, weißt du das? Ihre Ahnen ließen sich zurückverfolgen bis zu Charles II., meine bis zu einem viktorianischen Messerschleifer. Aber ihre Leute waren nicht reich, verstehst du? Mehr Stammbaum als Zaster. Das mit Joyce war eine Spontanheirat. Na bitte, ich geb’s zu. Wie sich herausstellte, hielt sie nicht viel von Sex; schade drum. Manche Frauen sind eben so. Keine Hormone. Also ging ich weiter zu Alicia. War doch klar, oder? Joyce und ich vertrugen uns gut, waren hübsch höflich im Umgang und so weiter, bis sie hinter Alicia kam. Dann gab es Zoff, monatelang war der Teufel los, entsinnst du dich? Wahrscheinlich nicht, du warst ja erst vier oder fünf.«

«Fünf bis sechs, genaugenommen.«

«Tatsächlich? Joyce gefiel sich als Hausherrin, weißt du? Sie lernte, was Macht ist. Wurde erwachsen oder so. Sie fing ernstlich mit Bridge an und stieg in Ehrenämter ein. Das alles gab sie dann sehr ungern auf; mich aufzugeben fiel ihr weniger schwer. Sie sagte, Alicia habe sie ihrer Selbstachtung beraubt und ihre Stellung in der Gemeinde zerstört. Sie hat ihr nie verziehen, oder?«