Wir brachten beide nicht zur Sprache, wie lange die Vorsichtsmaßnahmen weitergehen sollten. Norman Wests jüngster Bericht war so wenig schlüssig gewesen wie sein erster, und am Mittwoch abend lautete die klägliche Übersicht, in der ich seine Resultate zusammengefaßt hatte, wie folgt:
DONALD: viel zu tun im Golfclub. Kann keine genauen Zeiten nennen.
HELEN: Henley-Souvenirs in Heimarbeit verfertigt.
LUCY: gelesen, spazieren gewesen, geschrieben, meditiert.
EDWIN: Hausarbeit, Lebensmitteleinkäufe, Gang in die Bücherei.
THOMAS: neue Stelle gesucht, Kopfschmerzen gehabt.
BERENICE: Haushalt geführt, um die Kinder gekümmert, nicht kooperativ.
GERVASE: nach London gependelt, mit Unterbrechungen in seinem Büro, spät zu Hause.
URSULA: um die Töchter gekümmert, unglücklich.
FERDINAND: im Statistikkurs, keine Anwesenheitsliste.
DEBS: verbürgte Fotositzung an dem Auktionstag in Newmarket.
SERENA: gibt morgens, meist auch abends Aerobicstunden, kauft nachmittags Klamotten.
VIVIEN: herumgewerkelt, kann sich nicht erinnern.
ALICIA: wahrscheinlich dasselbe; unfreundlich.
JOYCE: Bridge gespielt.
Aus alldem, dachte ich, ging lediglich hervor, daß keiner sich um ein Alibi für die betreffenden Zeiten bemüht hatte. Nur Debs hatte ein sicheres, und das war von anderen beschafft und bestätigt worden. Die ganze übrige Familie hatte sich rumgetrieben, ohne ihr Kommen und Gehen zeitlich zu fixieren: das normale Verhalten unschuldiger Leute.
Nur Joyce und ich lebten mehr als eine halbe Autostunde von Quantum entfernt. Alle anderen, von Donald in Henley bis zu Gervase in Maidenhead, von Thomas bei Reading bis zu Lucy bei Marlow, von Ferdinand in Wokingham bis zu Serena in Bracknell, ja sogar Vivien in Twyford und Alicia bei Windsor, sie alle hatten sich gleichsam in einem Kreis um das Stammhaus herum angesiedelt wie Distelwolle, die der Wind aussät.
Die Polizei war bei der Untersuchung des Mordes an Moira darauf aufmerksam geworden, und ihre Leute hatten Bus- und Eisenbahnfahrpläne studiert, bis ihnen schwindlig wurde. Offenbar hatten sie niemand beim Lügen ertappt, aber das schien mir bei einer Familie, die sehr viel Übung im Verdrehen von Tatsachen hatte, nicht schlüssig zu sein. Tatsache war und blieb, daß ein jeder nach Quantum und wieder heim hätte fahren können, ohne daß es aufgefallen wäre.
Ich verbrachte einen kleinen Teil dieses Mittwochs damit, in Moiras Treibhaus herumzuwandern und über ihren Tod nachzudenken.
Das Treibhaus war, wie Arthur Bellbrook gesagt hatte, vom Haus her nicht zu sehen; es stand auf einem von Sträuchern gesäumten seitlichen Rasen. Ich fragte mich, ob Moira erschrocken war, als sie ihren Mörder kommen sah. Wahrscheinlich nicht. Eher hatte sie die Zusammenkunft wohl selbst herbeigeführt, selbst den Ort und die Zeit bestimmt. Malcolm hatte einmal erwähnt, daß sie unangemeldeten Besuch nicht schätzte und es ihr lieber war, wenn man vorher anrief. Vielleicht war es ein ungeplanter Mord gewesen, eine beim Schopf ergriffene Gelegenheit. Vielleicht hatte es Streit gegeben. Vielleicht eine abgelehnte Forderung. Vielleicht einen der bittersüßen Triumphe, die Moiras Spezialität waren, wie das Abernten von Arthur Bellbrooks Gemüse.
Moira als Herrin von Quantum, im Begriff, die Hälfte von allem, was Malcolm besaß, an sich zu raffen. Moira, selbstzufrieden und frohlockend, in Gefahr, ohne etwas davon zu ahnen. Ich zweifelte, ob sie auch nur einen Moment an ihren alptraumhaften Tod geglaubt hatte, bevor es zu spät war.
Malcolm las den Tag über die Financial Times und führte Telefongespräche; den Bruchstücken nach, die ich aufschnappte, benahm sich der Yen aus Malcolms Sicht unmöglich.
Wir telefonierten zwar nach draußen, waren aber beide nicht scharf darauf, Gespräche entgegenzunehmen, seit Malcolm an diesem Morgen von Vivien mit einem Schwall von Vorwürfen überschüttet worden war, die sich alle um seinen Geiz drehten. Er hatte mit gequälter Miene zugehört und mir ein Resümee gegeben, als Vivien der Dampf ausging.
«So eine Vettel aus dem Dorf hat ihr geflüstert, daß wir hier sind, jetzt wird’s also die ganze Familie wissen«, meinte er düster.»Sie sagt, Donald ist pleite, Lucy nagt am Hungertuch, und Thomas ist entlassen worden und packt das Arbeitslosendasein nicht. Ist das alles wahr? Es kann nicht wahr sein. Sie sagt, ich soll jedem von ihnen sofort zwanzigtausend Pfund geben.«
«Schaden würde das nicht«, sagte ich.»Es ist Gervases Idee, in gemäßigter Form.«
«Aber ich halte nichts davon.«
Ich führte ihm Donalds Schulgeldprobleme vor Augen, Lucys bröckelnde Überzeugungen und Thomas’ Wehrlosigkeit gegenüber der Nörgelei von Berenice. Er sagte, die Schwierigkeiten lägen in ihrem eigenen Charakter begründet, was allerdings zutraf. Er sagte, wenn er den dreien ein Almosen gäbe, müßte er das für uns alle tun, sonst käme es zu einem heißen Bürgerkrieg zwischen Vivien, Joyce und Alicia. Er machte einen Witz darüber, doch er war stur: Er habe durch die Treuhandfonds für alle gesorgt. Der Rest liege an uns. Er habe es sich nicht anders überlegt. Er habe über Viviens Vorschlag nachgedacht, und die Antwort sei nein.
Er rief Vivien zurück und teilte ihr das zu ihrer Entrüstung mit. Ich konnte ihre Stimme hören, die ihn niederträchtig, filzig, grausam, rachsüchtig, kleinlich, sadistisch, tyrannisch und böse schimpfte. Er war beleidigt, schrie sie an, den Mund, das Maul zu halten, und knallte schließlich den Hörer auf, während sie noch auf vollen Touren lief.
Vivien, dachte ich, hatte lediglich erreicht, daß er noch mehr auf seinem Standpunkt beharrte.
Ich fand ihn dickköpfig, fand, daß er es darauf anlegte, ermordet zu werden. Ich sah in die unerbittlichen blauen Augen, die mich herausforderten, ihm zu widersprechen, und fragte mich, ob er Nachgeben für eine Schwäche hielt, ob er glaubte, seinen Kindern aus der Verlegenheit zu helfen koste ihn Selbstachtung.
Ich sagte überhaupt nichts. Ich konnte schlecht für die anderen bitten, da ich selber davon profitieren würde. Ich hoffte aus vielen Gründen, daß er in der Lage war, seine Haltung zu ändern, aber das mußte von innen kommen. Ich ging hinaus zu Moiras Treibhaus, damit er Zeit fand, sich zu beruhigen, und als ich wiederkam, erwähnten wir beide nicht, was vorgefallen war.
Beim Nachmittagsspaziergang mit den Hunden erinnerte ich ihn, daß ich am nächsten Tag in Cheltenham reiten sollte, und fragte, ob er in dieser Gegend irgendwelche Kumpel habe, mit denen er die Zeit verbringen könne.
«Ich möchte dich wieder reiten sehen«, sagte er.
Er setzte mich fortwährend in Erstaunen.
«Was ist, wenn die Familie auch kommt?«»Dann verkleide ich mich noch mal als Koch.«
Ich wußte nicht, ob es klug war, aber wieder setzte er seinen Willen durch, und ich redete mir ein, daß ihm auf einer Rennbahn nichts passieren würde. Als wir hinkamen, machte ich ihn mit George und Jo bekannt, die ihm zu Blue Clancy gratulierten und ihn zum Lunch mitnahmen.
Ich hielt den ganzen Tag besorgt nach Brüdern, Schwestern, Mutter und Stiefmüttern Ausschau, sah aber niemanden. Es war kalt und windig, die Leute stellten ihre Kragen auf und zogen die Schultern hoch, um sich zu wärmen; auf allen Köpfen saßen Hüte: Filz, Tweed, Wolle, Pelz. Wenn sich jemand in seinen Kleidern hätte verstecken wollen, war das Wetter großartig dafür.
Park Railings bescherte mir einen herrlichen Ritt und wurde vierter, weniger müde als sein Jockey, der seit sechs Tagen auf keinem Pferd mehr gesessen hatte. George und Jo waren durchaus zufrieden, und Malcolm, der mit ihnen weiter unten am Kurs gewesen war, um eines der anderen Hindernisrennen von einem Sprung aus zu verfolgen, war nachdenklich.