«Ian«, rief er.
Ich blieb stehen und drehte mich um.
«Komm zurück«, sagte er.
Langsam ging ich wieder zu ihm.»Du hast gesagt, du traust mir«, sagte ich.
«Ich habe dich drei Jahre nicht gesehen… und ich habe dir das Nasenbein gebrochen…«
Ich nahm ihm den Schlüssel aus der Hand und schloß die Tür auf. Vermutlich wäre ich mir selber suspekt gewesen, wenn ich zwei Anschläge innerhalb von fünf Tagen erlebt hätte, denn immerhin fiel ich in die äußerst verdächtige Kategorie der Söhne. Ich knipste das Licht an und trat in das Zimmer, in dem zumindest jetzt keine Mörder lauerten.
Malcolm folgte mir, nur ansatzweise beruhigt, und schloß zögernd die Tür hinter sich. Ich zog die schweren gestreiften Vorhänge an beiden Fenstern zu und betrachtete kurz die geräumige, aber altmodische Unterkunft: nachgebildete antike Möbel, zwei Einzelbetten, ein Paar Sessel, Tür zum Bad.
Keine Mörder im Badezimmer.
«Ian…«:, sagte Malcolm.
«Hast du Scotch hier?«fragte ich. In den alten Zeiten war er nie ohne verreist.
Er winkte mit der Hand zu einer Kommode hinüber, in der ich eine halbvolle Flasche zwischen einer großen Anzahl Socken fand. Ich holte ein Glas aus dem Bad und schenkte ihm genug ein, um einen Elefanten stillzulegen.
«Um Gottes willen…«:, sagte er.
«Setz dich und trink.«
«Du bist verdammt überheblich.«
Er setzte sich aber und versuchte, das Zittern seiner Hand abzustellen, damit das Glas nicht gegen seine Zähne klapperte.
Mit viel weniger Nachdruck sagte ich:»Wenn ich dich tot sehen wollte, hätte ich dich heute abend von dem Wagen überfahren lassen. Ich wäre auf die andere Seite gesprungen… raus aus dem Schlamassel.«
Erst jetzt schien ihm richtig bewußt zu werden, daß unser Entkommen nicht ohne körperliche Folgen geblieben war.
«Dein Bein«, sagte er,»ist es in Ordnung?«
«Das Bein schon. Die Hose… Kann ich mir eine von dir borgen?«
Er wies auf einen Schrank, in dem ich ein fast identisches Gegenstück zu dem Anzug fand, den er anhatte. Ich war acht Zentimeter größer als er und wesentlich dünner, doch dafür gab es Gürtel, und ganzer Stoff war besser als löchriger.
Schweigend sah er zu, wie ich mich umzog, und erhob keine Einwände, als ich in der Rezeption anrief und bat, seine Rechnung für die Abreise fertigzumachen. Er trank noch etwas von dem Scotch, war aber keineswegs entspannt.
«Soll ich für dich packen?«fragte ich.
Er nickte und sah wiederum zu, als ich seinen Koffer holte, ihn auf eins der Betten legte und anfing, seine Habseligkeiten zusammenzusuchen. Sie waren ein beredtes Zeugnis von dem Geisteszustand, in dem er sich befunden hatte, als er sie einpackte: etwa zehn Paar Socken, aber keine Unterwäsche, ein Dutzend Hemden, kein Pyjama, zwei Frotteebademäntel, keine Schuhe zum Wechseln. An dem offensichtlich neuen Elektrorasierer im Bad klebte noch das Preisschild, aber er hatte seine antike Bürstengarnitur mit den Gold- und Silberrücken mitgebracht, alle acht, einschließlich zweier Kleiderbürsten. Ich räumte alles in den Koffer und klappte ihn zu.
«Ian«, sagte er.
«M-hm?«
«Man kann Berufsmörder engagieren. Du könntest beschlossen haben, heute abend nicht Ernst zu machen… im letzten Moment umdisponiert haben…«
«Hör schon auf«, wehrte ich ab. Ihn zu retten war eine reine Instinkthandlung gewesen, ohne Überlegung und ohne
Rücksicht auf Verluste; ich hatte Glück gehabt, mit einer Schramme davonzukommen.
Er sagte fast beschwörend, mit Mühe:»Du warst es doch nicht, der jemand auf Moira… oder auf mich, in der Garage? Sag, daß du es nicht warst.«
Ich wußte im Grunde nicht, wie ich ihn überzeugen sollte. Er hatte mich besser gekannt und länger mit mir zusammengelebt als mit irgendeinem seiner anderen Kinder, und wenn sein Vertrauen so brüchig war, dann gab es nicht viel Zukunft für uns.
«Ich habe Moira nicht ermorden lassen«, sagte ich.
«Wenn du das von mir glaubst, kannst du es auch von dir selber glauben. «Ich hielt inne.»Ich will nicht deinen Tod, ich will, daß du lebst. Ich könnte dir nie etwas antun.«
Mir kam der Gedanke, er hätte im Grunde das Bedürfnis, von mir zu hören, daß ich ihn liebte, auch wenn er über diesen Ausspruch vielleicht spotten würde. Was machte es? In extremen Situationen, schien mir, mußte man zu extremen Mitteln greifen, deshalb sagte ich trotz der mir anerzogenen Zurückhaltung:»Du bist ein großartiger Vater… und, ehm… ich liebe dich.«
Er war perplex. Eine solche Erklärung ging ihm sichtlich unter die Haut. Wahrscheinlich hatte ich etwas dick aufgetragen, aber sein Mißtrauen hatte mich auch verletzt.
«Ich schwöre auf den Coochie-Pembroke-Memorial-Challenge-Pokal«, sagte ich sehr viel beiläufiger,»daß ich dir niemals ein Haar krümmen würde… und auch nicht Moira, obwohl ich sie wirklich verabscheut habe.«
Ich nahm den Koffer vom Bett.
«Soll ich bei dir bleiben oder nicht?«fragte ich.»Wenn du mir nicht traust, fahre ich nach Hause.«
Er blickte mich prüfend an, als ob ich ein Fremder wäre, und in mancher Hinsicht war ich das wohl auch. Vermutlich sah er sich zum erstenmal gezwungen, mich nicht als Sohn, sondern als Mann zu betrachten; als einen Menschen, der ein von ihm getrenntes Leben führte, mit anderen Ansichten, anderen Wünschen, anderen Werten. Aus Söhnen, die einmal kleine Jungs waren, werden eigenständige Erwachsene: Väter nehmen die Veränderung oft nicht genau wahr. Ich war sicher, daß Malcolm mich grundsätzlich noch als den halbfertigen Menschen ansah, der ich mit fünfzehn gewesen war.
«Du bist anders geworden«, sagte er.
«Ich bin derselbe. Vertrau deinem Instinkt.«
Endlich ließ die Anspannung in seinem Körper ein wenig nach. Mit dem Instinkt hatte er mir vertraut; sein Instinkt war so stark gewesen, daß er ihn nach drei Jahren Funkstille ans Telefon getrieben hatte. Er trank den Scotch aus, stand auf und füllte mit einem tiefen Atemzug seine Lungen, als fasse er einen Entschluß.
«Gut, komm mit mir«, sagte er.
Ich nickte. Er ging zu der Kommode hinüber und holte aus der unteren Schublade, die ich nicht geöffnet hatte, eine Aktenmappe hervor. Ich hätte mir denken können, daß die irgendwo war: selbst in der schlimmsten Panik würde er die Listen seiner Goldzertifikate und seinen Wechselkursrechner nicht zurückgelassen haben. Er strebte mit der Aktenmappe zur Tür und überließ es mir, den Koffer zu tragen, doch aus einem Impuls heraus ging ich noch einmal zum Telefon und bestellte ein Taxi für uns.
«Dein Wagen ist doch hier«, sagte Malcolm.
«M-hm. Ich glaube, da lasse ich ihn auch erst mal.«
«Wieso denn?«
«Weil ich niemand gesagt habe, daß du zur Auktion nach Newmarket kommen wolltest, und du auch nicht, also ist dir wahrscheinlich jemand gefolgt — von hier aus gefolgt. Überleg doch mal… die, die dich überfahren wollten, haben dich auf dem Auktionsparkplatz erwartet, aber du hattest kein Auto. Du bist per Taxi hingefahren. Dein Angreifer muß dich und mich zusammen gesehen haben, muß gewußt haben, wer ich bin, und sich gedacht haben, daß du mit mir wegfährst. Ich habe zwar nicht gesehen, daß uns jemand von Newmarket aus gefolgt wäre, aber der, von dem wir reden, wußte wahrscheinlich, daß wir zu dem Hotel hier fahren, und jetzt… jetzt lungert er vielleicht auf dem Hof hinten, wo wir geparkt haben und wo es schön dunkel ist, herum und wartet, ob wir noch mal rauskommen.«
«Mein Gott!«
«Es ist möglich«, sagte ich.»Deshalb sollten wir vorn rausgehen, wo der Portier aufpaßt, meinst du nicht?«
«Wenn du es sagst«, antwortete er schwach.
«Von jetzt an«, sagte ich,»treffen wir jede übertriebene Sicherheitsvorkehrung, die uns nur einfällt.«
«Und wohin fahren wir mit dem Taxi?«
«Wie wär’s mit einem Laden, wo wir ein Auto mieten können?«