«Mein Gott«, sagte er.»Was ist aus dem Band geworden? Verschüttgegangen, nehme ich an.«
«Nein. Es liegt in Quantum in einer Kiste in der Garage.
Einiges konnte geborgen werden. Von deinen Gold- und Silberbürsten sind auch noch welche da.«
Er tat den Gedanken mit einer Handbewegung ab, obwohl es ihn durchaus freute.»Am Telefon klang Serena tatsächlich wie Alicia. Ich dachte manchmal, es sei Alicia, wenn sie anrief. Atemlos und mädchenhaft. Du weißt schon. Norman West hat sich einfach geirrt.«
«Sie nannte sich Mrs. Pembroke«, hob ich hervor.»Um Verwirrung zu stiften. Vielleicht hat sie aber auch Miß gesagt, und er hat nicht genau hingehört.«
«Es spielt weiter keine Rolle. «Er schwieg eine Zeitlang.
«Obwohl das gestern schrecklich war, war es eigentlich am besten so. Wir werden trauern und darüber hinwegkommen. Sie hätte es doch nicht ertragen, eingesperrt zu sein, nicht mit all der Energie… nicht in farblosen Klamotten.«
An diesem Sonntag morgen begannen wir auch die Familie anzurufen, um allen mitzuteilen, was passiert war. Ich rechnete damit, daß Joyce es ihnen schon gesagt hatte, doch das war nicht der Fall. Sie habe gestern mit ihnen gesprochen, meinten sie, aber das sei alles.
Wir lösten eine Menge fassungsloses Schweigen aus. Eine Menge nicht aufzuhaltender Tränen.
Malcolm teilte es zuerst Alicia mit und fragte, ob sie möchte, daß er zu ihr komme und sie tröste. Als sie sprechen konnte, sagte sie nein. Sie sagte, nicht Serena habe Moira umgebracht, sondern ich. Alles sei meine Schuld. Malcolm legte langsam den Hörer auf, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und erzählte mir, was sie gesagt hatte.
«Es ist sehr hart«, entschuldigte er sie,»damit konfrontiert zu werden, daß man eine Mörderin geboren hat.«
«Sie hat geholfen, eine Mörderin aus ihr zu machen«, sagte ich.
Ich sprach mit meinen vier Brüdern und mit Lucy. Malcolm informierte Vivien zuletzt.
Sie alle fragten, wo wir waren: Joyce hatte ihnen gesagt, wir seien in Australien. In London, sagten wir, fügten aber nicht an, wo. Malcolm meinte, ihm graue davor, daß sie alle über ihn herfielen, bevor er soweit sei. Zum Schluß kippte ich vor Müdigkeit um, und Malcolm hatte eine halbe Flasche geleert. Wir schliefen lange vor der Schlafenszeit.
Am Montag fuhren wir wieder nach Quantum, da wir es der Polizei versprochen hatten, und sahen Mr. Smith herumstöbern wie in alten Zeiten.
Alle körperlichen Spuren von Serena hatte man gnädigerweise entfernt, und geblieben waren nur die zerrissenen schwarzen Plastikbahnen, die nicht in ihrer Nähe gewesen waren.
Mr. Smith gab uns staubig die Hand und rückte nach ein paar teilnahmsvollen Gemeinplätzen mit seiner wahren Absicht heraus.
«Wer ein fertig verdrahtetes Sprengmittel von Ort zu Ort schleppt, ist des Wahnsinns. Man schließt die Batterie erst an, wenn die Ladung da ist, wo sie hochgehen soll. Wenn Sie mich fragen, läßt man auch die Zündkapsel draußen. Man hält beides getrennt.«
«Sie wollte sie wahrscheinlich nicht fallen lassen«, sagte ich.
«Wohlgemerkt, sie hatte auch Pech«, räumte Mr. Smith ein.»Es ist möglich — aber ich würde es nicht riskieren —, ANFO mit eingesetztem Zünder hinzuwerfen, ohne daß es explodiert. Aber vielleicht sind beim Herunterfallen die Uhrendrähte zusammengekommen.«
«Haben Sie die Uhr gefunden?«
«Geduld«, meinte er und machte sich wieder auf die Suche.
Ein Polizist, der ein paar Sensationslustige auf Distanz hielt, sagte uns, daß Kommissar Yale aufgehalten worden sei und uns hier nicht treffen könne; wir möchten bitte zur Polizeistation kommen. Wir fuhren hin und fanden ihn in seinem Büro.
Er gab uns die Hand. Er sprach sein Mitgefühl aus.
Er fragte, ob wir wüßten, warum Serena mit einer zweiten Bombe nach Quantum gekommen sei, und wir sagten es ihm. Ob wir auch wüßten, warum sie Moira umgebracht und versucht hatte, Malcolm umzubringen? Wir legten ihm meine Theorie dar. Er hörte grübelnd zu.
«Es wird eine gerichtliche Leichenschau geben«, sagte er.»Mr. Ian kann formell die Überreste identifizieren. Es ist aber nicht erforderlich, daß Sie die… daß Sie sie noch einmal sehen. Der Coroner wird auf Tod durch Unfall erkennen, daran habe ich keinen Zweifel. Vielleicht braucht er von Ihnen eine Schilderung dessen, was sich zugetragen hat. Sie werden dann zur gegebenen Zeit noch benachrichtigt. «Er hielt inne.»Wir waren gestern in Miß Pembrokes Wohnung und haben sie durchsucht. Wir fanden einige interessante Dinge. Ich werde Ihnen ein paar Gegenstände zeigen und wäre dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, ob Sie sie kennen oder nicht.«
Er griff in einen Karton, der dem, den Serena bei sich gehabt hatte, ganz ähnlich sah und auf seinem Schreibtisch stand. Er holte einen Stoß von zwanzig bis dreißig Collegeheften mit blauen Deckeln und Spiralheftung hervor und danach eine Blechdose, die groß genug für ein Pfund Bonbons war, mit einem Bild obendrauf.
«Der Raritätenladen«, sagte Malcolm traurig.
«Ohne jeden Zweifel«, nickte Yale.»Der Titel steht unter dem Bild.«
«Sind Zündkapseln drin?«fragte ich.
«Nein, nur Watte. Mr. Smith fragt sich, ob sie, um ganz sicherzugehen, mehr als einen Zünder pro Bombe benutzt hat.
Er sagt, Dilettanten sind so verrückt, daß sie alles mögliche probieren.«
Ich ergriff eins von den Schreibheften und schlug es auf.
«Haben Sie die schon mal gesehen, meine Herren?«fragte Yale.
«Nein«, sagte ich, und Malcolm schüttelte den Kopf.
In Serenas verschnörkelter Handschrift las ich:
«Daddy und ich hatten solchen Spaß heute morgen im Garten. Er brachte den Hunden das Apportieren bei, und ich warf die Stöcke. Wir haben eine Menge schöne Osterglocken gepflückt, und als wir wieder rein sind, hab ich sie in Vasen getan und in alle Zimmer gestellt. Zu Mittag hab ich Lammkoteletts gebraten und Minzsoße und Erbsen und Bratkartoffeln mit Fleischsoße dazu gemacht, und zum Nachtisch gab es Eiskrem und Birnen. Daddy will mir weiße Stiefel mit Reißverschluß und silbernen Troddeln kaufen. Er nennt mich seine Prinzessin, ist das nicht goldig? Am Nachmittag sind wir zum Bach runter und haben Brunnenkresse für den Tee gepflückt. Daddy hat die Socken ausgezogen und seine Hosenbeine aufgerollt, und die Jungs, nein, die Jungs waren nicht da, sie kommen in meine Geschichten nicht rein; Daddy war’s, der die Kresse gepflückt hat, und wir haben sie gewaschen und mit braunem Brot gegessen. Heute abend werde ich auf seinem Schoß sitzen, und er wird mein Haar streicheln und mich seine kleine Prinzessin nennen, seinen kleinen Schatz, und es wird herrlich sein.«
Ich blätterte die Seiten durch. Das ganze Heft war voll. Sprachlos gab ich es Malcolm, aufgeschlagen an der Stelle, die ich gelesen hatte.
«So sind die ganzen Hefte«, sagte Yale.»Wir haben sie vollständig lesen lassen. Sie hat sie seit Jahren geschrieben, würde ich sagen.«
«Aber sind die denn… neueren Datums?«sagte ich.
«Einige mit Sicherheit. Ich habe in meiner Laufbahn schon mehrere Sammlungen solcher Hefte gesehen. Schreibzwang nennt man das, glaube ich. Die Hefte Ihrer Schwester sind vergleichsweise gesund und harmlos. Sie können sich nicht vorstellen, was für pornographisches und brutales Zeug ich gelesen habe. Es läßt einen verzweifeln.«
Malcolm, der sichtlich bewegt in den Seiten blätterte, sagte:»Sie schreibt, ich hätte ihr ein hübsches rotes Kleid gekauft… einen weißen Pulli mit blauen Blumen drauf. einen knallgelben Gymnastikanzug — ich weiß kaum, was ein Gymnastikanzug ist. Armes Mädchen. Armes Mädchen.«
«Sie hat sich das selbst gekauft«, sagte ich.»Drei-, viermal die Woche.«
Yale hob den Stapel Hefte an, zog das unterste hervor und gab es mir.»Das ist das letzte. Es ändert sich am Schluß. Es könnte für Sie interessant sein.«
Ich wandte mich den letzten Eintragungen in dem Heft zu und las bekümmert: