«Daddy läßt mich allein, und ich will ihn nicht mehr. Wer weiß, vielleicht bringe ich ihn um. So schwer ist das nicht. Ich hab es ja schon mal gemacht.«
Danach war eine Lücke auf der Seite, und weiter unten stand:
IAN IST IN QUANTUM BEI DADDY. ICH HALTE DAS NICHT AUS.
Nach einer weiteren Lücke hatte sie noch einmal in noch größeren Blockbuchstaben» IAN «geschrieben und einen Kreis aus kleinen, nach außen strahlenden Linien drum herum gemalt: eine Explosion mit meinem Namen im Zentrum.
Das war der Schluß. Das übrige Heft war leer.
Malcolm las die Seite über meinen Arm hinweg und seufzte tief.
«Kann ich die Hefte haben?«sagte er zu Yale.»Sie brauchen sie doch nicht, oder? Es gibt ja keinen Prozeß.«
Yale zögerte, meinte dann aber, er sehe keinen Grund, sie zu behalten. Er schob Malcolm den Stapel zu und legte die Bonbondose obendrauf.
«Und den Leuchtturm und die Uhr?«sagte ich.»Könnten wir die auch bekommen?«
Er holte die Legoschachtel aus einem Schrank, führte alles, was wir mitnahmen, auf einer amtlich aussehenden Quittung auf und ließ sie von Malcolm unterschreiben.
«Sehr erschütternd, das Ganze«, sagte er beim abschließenden Händedruck,»aber wir können unseren Fall zu den Akten legen.«
Wir kehrten mit den traurigen Trophäen ins Ritz zurück, und an diesem Nachmittag stellte Malcolm postfertige Schecks aus, die jedes finanzielle Problem im Repertoire der Pembrokes lösen würden.
«Und die drei Hexen?«sagte er.»Wenn Helen und der scheußliche Edwin und Berenice und Ursula und Debs alle einen eigenen Anteil bekommen, was ist dann mit den dreien?«
«Liegt bei dir«, sagte ich.»Es sind deine Frauen.«
«Exfrauen. «Er zuckte die Achseln und schrieb auch ihnen Schecks.»Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte er.»Die verdammte Alicia verdient es nicht.«
«Motoren laufen besser mit ein wenig Öl«, sagte ich.
«Mit Schmiergeld, meinst du. «Er hielt noch immer nichts davon. Hatte noch immer das Gefühl, sie zu korrumpieren, indem er ihnen Wohlstand schenkte. Glaubte immer noch, daß er, wenn er Millionen hatte, normal und einigermaßen vernünftig bleiben konnte, sonst aber keiner.
Er schrieb einen letzten Scheck und gab ihn mir. Ich wurde verlegen, als ich ihn annahm, was er interessant fand.
«Du hättest das Doppelte bekommen müssen«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf; mir schwindelte von Nullen.
«Du hast ihn vorausdatiert«, sagte ich.
«Natürlich. Ich habe sie alle vorausdatiert. So viel habe ich doch nicht griffbereit auf der Bank liegen. Muß ein paar Anteile verkaufen. Die Familie bekommt die Zusage jetzt und das Bare in einem Monat.«
Er beleckte die Umschläge. Kein grausamer Mann, dachte ich.
Am Dienstag fuhren wir auf meinen Wunsch zu Robin.
«Er wird sich an Serena nicht erinnern«, meinte Malcolm.
«Nein, nicht anzunehmen.«
Wir fuhren mit dem Wagen, den ich am Tag zuvor für die Fahrt nach Quantum gemietet hatte, und hielten wieder unterwegs, um Spielzeug, Schokolade und ein Päckchen Luftballons zu kaufen.
Ich hatte den Lego-Leuchtturm und die Mickymausuhr mitgenommen, weil ich der Ansicht war, sie könnten Robin vielleicht interessieren, worüber Malcolm den Kopf schüttelte.
«Er kriegt die doch nicht in Gang.«
«Vielleicht erinnert er sich dran. Kann man nie wissen. Immerhin gehörten sie ihm und Peter. Serena hat ihnen die Uhr geschenkt und den Leuchtturm gebaut.«
Robins Zimmer war sehr kalt wegen der offenen Fenstertüren. Malcolm ging versuchsweise hinüber und schloß sie, aber Robin riß sie sofort wieder auf. Malcolm klopfte Robin auf die Schulter und entfernte sich aus der kritischen Zone, worauf ein verwirrter Robin ihn forschend anblickte und mich ebenfalls, wie er es manchmal tat: als versuche er sich zu erinnern, schaffe es aber nicht ganz.
Wir gaben ihm die neuen Spielsachen, die er ansah und wieder hinlegte, und nach einer Weile öffnete ich die Legoschachtel und holte die alten heraus.
Er warf nur einen Blick darauf, bevor er einen langen, mehrmaligen Rundgang durch das Zimmer unternahm. Dann kam er zu mir, zeigte auf das Päckchen Luftballons und stieß ein pustendes Geräusch aus.
«Guter Gott«, sagte Malcolm.
Ich öffnete das Päckchen und blies mehrere Ballons auf, die ich wie immer am Hals verknotete. Robin machte weiter Pustgeräusche, bis ich sämtliche Ballons aus dem Päckchen aufgeblasen hatte. Sein Gesicht sah erregt aus. Er pustete stärker, um mich anzutreiben.
Als sie alle im Raum verstreut waren, rot, gelb, blau, grün und weiß in der Zugluft tanzten, bunt und fröhlich, lief er umher und brachte sie mit furioser Energie zum Platzen, durchstach die einen mit dem Zeigefinger, zwickte die anderen, zerdrückte den letzten mit der flachen Hand an der Wand, um den Zorn herauszulassen, den er nicht artikulieren konnte.
Meistens war er nach diesem Ritual gelöst und friedlich, zog sich in eine Ecke zurück, saß da und starrte ins Leere oder schaukelte vor sich hin.
Diesmal jedoch ging er zum Tisch hinüber, ergriff den Leuchtturm, riß ihn grob in vier, fünf Teile und schleuderte sie heftig aus dem weit geöffneten Fenster. Dann ergriff er die Uhr und zerrte mit Gewalt die Drähte los, einschließlich der Mickymaushände.
Malcolm war entgeistert. Die Wut des sanften Robin schrie aus seinem stummen Körper. Seine Kraft war eine Offenbarung.
Er nahm die Uhr in seine Hand, ging im Zimmer umher und knallte sie bei jedem Schritt gegen die Wand. Schritt, krach, Schritt, krach, Schritt, krach.
«Halt ihn auf«, sagte Malcolm gequält.
«Nein… er redet«, sagte ich.
«Er redet nicht.«
«Er erzählt uns.«
Robin erreichte das Fenster und warf die zerschmetterte Uhr in hohem Bogen in den Garten. Dann fing er an zu schreien, brüllte ohne Worte, seine Stimme war rauh von mangelndem Gebrauch und heiser durch die Wandlung vom Jungen zum Mann. Der Laut schien ihn mitzureißen, bis sein Körper davon widerhallte, Klang verströmte, der Damm des Schweigens hinweggeschwemmt war.»Aaah… aaah… aaah…«, und dann richtige Wörter:»Nein. Nein. Nein. Serena. Nein. Serena… Nein…«Er schrie den Himmel an, das Schicksal, die böse Ungerechtigkeit des Nebels in seinem Hirn. Schrie aus Zorn und Raserei.»Serena… Nein… Serena… Nein…«, immer und immer weiter, bis es sinnlos wurde, ohne Inhalt, nur noch Wörter.
Schließlich trat ich dicht an ihn heran und brüllte ihm ins Ohr:»Serena ist tot.«
Er hörte sofort auf zu schreien.»Serena ist tot«, wiederholte ich.»Wie die Uhr. Kaputt. Erledigt. Tot.«
Er drehte sich um und sah mich ausdruckslos an, den Mund geöffnet, ohne einen Laut von sich zu geben; die plötzliche Stille war ebenso entnervend wie das Gebrüll vorher.
«Serena ist tot«, sagte ich, betonte jedes Wort einzeln, mit Nachdruck.
«Er versteht’s nicht«, sagte Malcolm — und Robin setzte sich in eine Ecke, legte die Arme um seine Knie, neigte den Kopf und begann zu schaukeln.
«Die Schwestern meinen, er versteht ziemlich viel«, sagte ich.»Ob er begreift, daß Serena tot ist, weiß ich nicht. Aber wenigstens haben wir versucht, es ihm zu sagen. «Robin schaukelte weiter, als wären wir nicht da.
«Was spielt das für eine Rolle?«meinte Malcolm hilflos.
«Es spielt deshalb eine Rolle, weil es ihm, falls er es versteht, vielleicht Ruhe schenkt. Ich habe den Leuchtturm und die Uhr mitgebracht, weil ich mich fragte, ob Robin sich überhaupt an etwas erinnert. Ich dachte, es lohnt sich, das zu versuchen… Auf so ein Ergebnis war ich zwar nicht gefaßt… aber ich glaube, er hat die Uhr, die ein Geschenk von Serena war, zerschmettert, weil sie ihn an Serena erinnert hat; weil er und Peter sie kurz vor dem Autounfall von ihr bekommen haben. Irgendwo in diesem dämmerigen Kopf scheinen manchmal Zusammenhänge auf.«