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Für Germán, aus dem das Licht spricht.

K.A.

19-1-1964

Diese Uhr sollte die gemeinsamen Stunden zählen, die ihnen noch verblieben.

Sie gab Bühne und Laufbahn auf. Die Galavorstellung zu ihrem Abschied fand im Liceo in Barcelona mit Lakmé von ihrem Lieblingskomponisten Delibes statt. Niemand würde je wieder eine Stimme hören wie die ihre. Während der Schwangerschaftsmonate malte Germán eine Porträtserie von seiner Frau, die alle seine vorherigen Werke in den Schatten stellte. Nie wollte er sie verkaufen.

Am 26. September 1964 kam in der Villa in Sarriá ein Mädchen mit hellem Haar und aschfarbenen Augen wie die ihrer Mutter zur Welt. Sie sollte Marina getauft werden und in ihrem Gesicht immer das Abbild und das Licht ihrer Mutter tragen. Sechs Monate später starb Kirsten Auermann, im selben Zimmer, in dem sie ihre Tochter zur Welt gebracht und mit Germán die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Mann nahm ihre blasse, zitternde Hand in die seinen. Als das Morgengrauen sie wie einen Hauch mitnahm, war sie bereits kalt.

Einen Monat nach ihrem Tod betrat Germán wieder sein Atelier auf dem Dachboden der Familienwohnung. Zu seinen Füßen spielte die kleine Marina. Er ergriff den Pinsel und versuchte eine Linie auf der Leinwand zu ziehen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und der Pinsel fiel ihm aus der Hand. Germán Blau malte nie wieder. Das Licht in seinem Inneren war für immer erloschen.

9

Im Lauf des Herbstes wurden meine Besuche bei Germán und Marina allmählich zu einem täglichen Ritual. Die Unterrichtsstunden verbrachte ich tagträumend und nur darauf wartend, zu dem geheimen Sträßchen entwischen zu können. Dort erwarteten mich meine neuen Freunde, außer montags, wenn Marina Germán ins Krankenhaus zum Arzt begleitete. Wir tranken Kaffee und plauderten in den halbdunklen Salons. Germán brachte mir die Anfangsgründe des Schachspiels bei. Trotz dieses Unterrichts setzte mich Marina immer in fünf oder sechs Minuten schachmatt, doch ich verlor die Hoffnung nicht.

Nach und nach wurde Germáns und Marinas Welt zur meinen, ohne dass ich es richtig gewahrte. Ihr Haus, die in der Luft schwebenden Erinnerungen wurden allmählich meine eigenen. So fand ich heraus, dass Marina nicht zur Schule ging, um ihren Vater nicht allein lassen zu müssen und ihn umsorgen zu können. Sie erklärte mir, Germán habe sie lesen, schreiben und denken gelehrt.

»Die ganze Geographie, Trigonometrie und Arithmetik der Welt taugt nichts, wenn du nicht selbständig denken lernst«, rechtfertigte sie sich.»Und das bringen sie einem in keiner Schule bei. Das steht nicht auf dem Lehrplan.«

Germán hatte seinen Geist der Welt der Kunst, der Geschichte, der Wissenschaft geöffnet. Die alexandrinische Bibliothek seines Hauses war zu seinem Universum geworden. Jedes seiner Bücher war eine Tür zu neuen Welten und neuen Gedanken. Eines Abends Ende Oktober setzten wir uns auf ein Fensterbrett im zweiten Stock, um die Lichter des Tibidabo in der Ferne zu betrachten. Marina gestand mir, ihr Traum sei es, Schriftstellerin zu werden. Sie hatte eine ganze Truhe voller Geschichten und Erzählungen, die sie seit ihrem neunten Lebensjahr geschrieben hatte. Als ich sie bat, mir etwas zu zeigen, schaute sie mich an, als wäre ich betrunken, und sagte, das komme überhaupt nicht in Frage. Das ist wie beim Schach, dachte ich. Nur nichts überstürzen.

Oft studierte ich Germán und Marina, wenn sie mich nicht beachteten. Spielend, lesend oder einander schweigend am Schachbrett gegenübersitzend. Das unsichtbare Band zwischen ihnen, diese abgeschiedene Welt, die sie sich fern von allem und allen errichtet hatten, war ein wunderbarer Zauber. Eine Fata Morgana, die ich manchmal mit meiner Gegenwart zu zerstören fürchtete. Es gab Tage, da ich mich auf dem Rückweg ins Internat als glücklichsten Menschen der Welt empfand, da ich diese Welt teilen durfte.

Ohne genau zu wissen, warum, hielt ich diese Freundschaft geheim. Ich hatte niemandem etwas von den beiden erzählt, nicht einmal meinem Kameraden JF. In wenigen Wochen waren Germán und Marina zu meinem geheimen Leben geworden und, wie ich ehrlicherweise sagen muss, zum einzigen Leben, das ich leben wollte. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem sich Germán zeitig zur Ruhe zurückzog, nachdem er sich wie immer mit seinen erlesenen Manieren eines Fin-de-Siècle-Kavaliers empfohlen hatte. Ich blieb mit Marina im Salon der Porträts allein. Sie lächelte mir rätselhaft zu und sagte, sie schreibe über mich. Diese Vorstellung erschreckte mich.

»Über mich? Was meinst du mit ›über mich schreiben‹?«

Sie genoss meine plötzliche Nervosität.

»Na?«, fragte sie.»Hast du vielleicht eine so geringe Meinung von dir, dass du glaubst, es lohne sich nicht, über dich zu schreiben?«

Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Ich beschloss, die Strategie zu ändern und in die Offensive zu gehen. Das hatte mir Germán in seinen Schachstunden beigebracht. Grundstrategie: Wenn man dich mit heruntergelassenen Hosen erwischt, dann schrei los und greif an.

»Na, wenn das so ist, wird dir nichts anderes übrigbleiben, als es mich lesen zu lassen.«

Unentschlossen zog sie eine Braue in die Höhe.

»Es ist mein gutes Recht, zu erfahren, was man über mich schreibt.«

»Vielleicht gefällt es dir ja nicht.«

»Vielleicht. Oder vielleicht doch.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Ich werde warten.«

Die Kälte überfiel Barcelona auf die übliche Art – wie ein Meteorit. Innerhalb eines knappen Tages konnten die Thermometer ihre eigenen Tiefstwerte nicht mehr lesen. Heerscharen von Wintermänteln wurden entmottet, um die leichten Übergangsmäntel zu ersetzen. Stählerne Himmel und Stürme, die in die Ohren bissen, bemächtigten sich der Straßen. Germán und Marina überraschten mich mit dem Geschenk einer wollenen Mütze, die ein Vermögen gekostet haben musste.

»Sie soll die Gedanken beschützen, lieber Óscar«, erklärte Germán.»Nicht, dass Ihnen noch das Hirn einfriert.«

Mitte November verkündete Marina, Germán und sie müssten für eine Woche nach Madrid fahren. Ein Arzt des La-Paz-Krankenhauses, eine echte Kapazität, hatte sich bereit erklärt, Germán einer Behandlung zu unterziehen, die sich noch im Experimentierstadium befand und in ganz Europa erst zweimal angewandt worden war.

»Dieser Arzt soll Wunder wirken, ich weiß nicht…«, sagte Marina.

Die Vorstellung, eine Woche ohne die beiden verbringen zu müssen, fiel wie eine Steinplatte auf mich. Vergeblich versuchte ich es zu verbergen. Marina las in meinem Inneren, als wäre ich aus Glas, und tätschelte mir die Hand.

»Es ist ja nur eine Woche, weißt du, danach sehen wir uns wieder.«

Ich nickte, ohne tröstende Worte für sie zu finden.

»Gestern habe ich mit Germán über die Möglichkeit gesprochen, dass du in diesen Tagen Kafka und das Haus hütest…«, wagte sie sich vor.

»Aber selbstverständlich, alles, was ihr wollt.«

Sie strahlte.

»Hoffentlich ist dieser Arzt so gut, wie man sagt«, bemerkte ich.

Sie schaute mich lange an. Nach dem Lächeln ging von ihren aschfarbenen Augen ein entwaffnend trauriges Licht aus.

»Hoffentlich.«

Der Zug nach Madrid fuhr um neun Uhr vormittags vom Francia-Bahnhof ab. Ich war im Morgengrauen entwischt und hatte mit meinen Ersparnissen ein Taxi genommen, um Germán und Marina abzuholen und zum Bahnhof zu fahren. Dieser Sonntagmorgen war in bläulichen Nebel gehüllt, der sich unter dem zaghaft bernsteinfarbenen Tagesanbruch verflüchtigte. Den größten Teil der Fahrt schwiegen wir. Das Taxameter des alten Seat 1500 klapperte wie ein Metronom.

»Sie hätten sich doch nicht in solche Unkosten zu stürzen brauchen, lieber Óscar«, sagte Germán.

»Das sind keine Unkosten. Es ist eine Hundekälte, und schließlich soll uns nicht die Seele abfrieren, nicht wahr?«