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»Michail Kolwenik wohnte vier Jahre lang in dieser Wohnung, kurz nachdem er nach Barcelona gekommen war. Da hinten liegt noch das eine oder andere seiner Bücher rum. Das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist.«

»Haben Sie vielleicht seine gegenwärtige Adresse? Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

Sentís lachte.

»Versuch’s doch mal in der Hölle.«

Ich schaute ihn verständnislos an.

»Michail Kolwenik ist 1948 gestorben.«

Wie mir Benjamín Sentís an diesem Morgen erzählte, war Michail Kolwenik Ende 1919 nach Barcelona gekommen. Damals war er knapp über zwanzig; er stammte aus Prag und war auf der Flucht vor einem durch den Ersten Weltkrieg verwüsteten Europa. Er sprach kein Wort Katalanisch oder Spanisch, jedoch fließend Französisch und Deutsch. Er hatte weder Geld noch Freunde oder Bekannte in dieser schwierigen, feindlichen Stadt. Seine erste Nacht in Barcelona verbrachte er im Gefängnis, da er beim Schlafen in einem Hauseingang erwischt wurde, wo er sich vor der Kälte hatte schützen wollen. In der Zelle verpassten ihm zwei des Raubes, Überfalls und der Brandstiftung angeklagte Insassen eine Tracht Prügel mit dem Argument, all der lausigen Ausländer wegen sei das Land auf den Hund gekommen. Die drei gebrochenen Rippen, die Quetschungen und inneren Verletzungen heilten mit der Zeit wieder aus, aber auf dem linken Ohr verlor er für immer das Gehör.»Nervenverletzung«, diagnostizierten die Ärzte. Ein übler Anfang. Doch Michail Kolwenik sagte immer, was schlecht beginne, könne nur noch besser enden. Zehn Jahre später war er einer der reichsten und einflussreichsten Männer Barcelonas.

Auf der Gefängniskrankenstation lernte er den Mann kennen, der mit den Jahren sein bester Freund wurde, einen jungen Arzt englischer Abstammung namens Joan Shelley. Dieser sprach ein wenig Deutsch und wusste aus eigener Erfahrung, was es hieß, sich in einem fremden Land als Ausländer zu fühlen. Dank ihm bekam Kolwenik nach seiner Entlassung eine Anstellung in einem kleinen Unternehmen namens Velo-Granell. Da wurden Orthopädieartikel und medizinische Prothesen hergestellt. Der Marokkokonflikt und der Erste Weltkrieg hatten für diese Produkte einen enormen Markt geschaffen – Legionen von Männern, die zum höheren Ruhm von Bankiers, Kanzlern, Generalen, Börsenmaklern und anderen Vaterlandsvätern für ihr ganzes Leben verstümmelt und im Namen von Freiheit, Demokratie, Reich, Rasse oder Flagge zerstört worden waren.

Die Werkstätten der Velo-Granell lagen neben dem Born-Markt. Die Schaukästen im Inneren mit künstlichen Armen, Augen, Beinen und Gelenken riefen dem Besucher die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers in Erinnerung. Mit einem bescheidenen Gehalt und der Empfehlung der Firma fand Michail Kolwenik Unterkunft in einer Wohnung der Calle Princesa. Ein gieriger Leser, hatte er in einem halben Jahr gelernt, sich auf Katalanisch und Spanisch durchzuschlagen. Sein Talent und seine Erfindungsgabe machten ihn bald zu einem der wichtigsten Angestellten der Velo-Granell. Er verfügte über umfassende Kenntnisse in Medizin, Chirurgie und Anatomie und entwarf einen revolutionären pneumatischen Mechanismus, dank dem bei Bein- und Armprothesen Bewegungen ausgeführt werden konnten. Die Apparatur reagierte auf Muskelimpulse und verlieh dem Patienten eine noch nie dagewesene Beweglichkeit. Diese Erfindung katapultierte die Velo-Granell an die Spitze der Branche. Doch das war erst der Anfang. Unermüdlich produzierte Kolweniks Zeichentisch neue Errungenschaften, und schließlich wurde er zum Chefingenieur der Entwicklungsabteilung ernannt.

Monate später stellte ein Unglücksfall das Talent des jungen Kolwenik auf die Probe. Der Sohn des Velo-Granell-Gründers erlitt im Werk einen schrecklichen Unfall. Eine hydraulische Presse hatte ihm wie ein Drachenschlund beide Hände abgerissen. Wochenlang arbeitete Kolwenik unermüdlich an der Erfindung neuer Hände aus Holz, Metall und Porzellan, deren Finger auf den Befehl von Muskeln und Sehnen des Unterarms reagierten. Die von Kolwenik ersonnene Lösung nutzte die elektrischen Ströme der Nervenstimuli im Arm, um die Bewegung auszulösen. Vier Monate nach dem Unfall nahm das Opfer erstmals die neuen mechanischen Hände in Betrieb, mit denen es Gegenstände ergreifen, eine Zigarette anzünden oder sich ohne Hilfe das Hemd zuknöpfen konnte. Jedermann war sich darin einig, dass Kolwenik diesmal alles Vorstellbare übertroffen hatte. Kolwenik, kein großer Freund von Lobesworten und Euphorie, meinte, das sei erst der Beginn einer neuen Wissenschaft. In Anerkennung seines Werks ernannte ihn der Velo-Granell-Gründer zum Generaldirektor des Unternehmens und bot ihm ein Aktienpaket an, das ihn gemeinsam mit dem Mann, dem sein Erfindergeist neue Hände verschafft hatte, praktisch zu einem der Inhaber machte.

Unter Kolweniks Leitung schlug die Velo-Granell eine neue Richtung ein. Die Firma erweiterte das Angebot und diversifizierte ihre Produktpalette. Sie legte sich als Symbol einen schwarzen Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln zu, dessen Bedeutung Kolwenik nie erläuterte. Das Werk wurde infolge der Lancierung neuer Mechanismen vergrößert: mit Gelenken versehene Gliedmaßen, Kreislaufklappen, Knochenfasern und zahllose weitere Erfindungen. Der Vergnügungspark auf dem Tibidabo bevölkerte sich mit menschlichen Automaten, die Kolwenik zum Zeitvertreib und als Experimentierfeld geschaffen hatte. Die Velo-Granell exportierte in sämtliche Länder Europas, nach Amerika und Asien. Der Wert der Aktien und Kolweniks persönliches Vermögen nahmen gewaltig zu, aber er selbst weigerte sich, die bescheidene Behausung in der Calle Princesa zu verlassen. Er fand, es gebe keinen Anlass für eine Veränderung. Er war ein einsamer Mensch, der ein schlichtes Leben führte, und diese Unterkunft reichte für ihn und seine Bücher.

Das sollte sich ändern, als eine neue Figur auf dem Spielbrett erschien. Ewa Irinowa war der Star in einem Erfolgsstück im Teatro Real. Die junge Frau russischer Abstammung war knapp neunzehn. Man sagte, ihrer Schönheit halber hätten sich Kavaliere in Paris, Wien und anderen Städten das Leben genommen. Auf ihren Reisen hatte Ewa Irinowa zwei seltsame Personen um sich, die Zwillingsgeschwister Sergei und Tatjana Glasunow. Sie waren Ewas Agenten und Tutoren. Es hieß, Sergei und die junge Diva seien Geliebte, die finstere Tatjana schlafe in einem Sarg im Orchestergraben des Teatro Real, Sergei sei einer der Mörder der Romanow-Dynastie gewesen, Ewa habe die Gabe, sich mit den Geistern der Verstorbenen zu unterhalten… Allerhand ausgefallener Klatsch nährte den Ruhm der schönen Irinowa, die Barcelona völlig im Griff hatte.

Die Irinowa-Legende kam Kolwenik zu Ohren. Neugierig besuchte er eines Abends das Theater, um der Ursache von so viel Aufruhr persönlich auf den Grund zu gehen. Nach einem einzigen Abend war er wie geblendet von der jungen Frau. Von diesem Tag an wurde ihre Garderobe buchstäblich zu einem Rosenbeet. Zwei Monate nach dieser Offenbarung beschloss Kolwenik, im Theater eine Loge zu mieten. Jeden Abend verbrachte er dort, um hingerissen den Gegenstand seiner Anbetung zu betrachten. Natürlich wurde die Angelegenheit zum Stadtgespräch. Eines schönen Tages trommelte Kolwenik seine Anwälte zusammen und hieß sie dem Impresario Daniel Mestres ein Angebot machen. Er wollte dieses alte Theater und damit die Schulden übernehmen, die es mit sich schleppte, um es von Grund auf neu aufzubauen und zur besten Bühne Europas zu machen. Ein blendendes Theater mit den modernsten technischen Errungenschaften und ganz seiner angebeteten Ewa Irinowa gewidmet. Die Theaterleitung versagte sich seinem großzügigen Angebot nicht. Das neue Projekt wurde auf den Namen Gran Teatro Real getauft. Einen Tag später trug Kolwenik Ewa Irinowa in perfektem Russisch die Ehe an. Sie willigte ein.

Das Paar plante, nach der Hochzeit in eine Traumvilla zu ziehen, die sich Kolwenik neben dem Park Güell bauen ließ. Er selbst hatte zuvor dem Architekturbüro Sunyer, Balcells i Baró einen Entwurf des Prachtbaus vorgelegt. Es hieß, niemals in der Geschichte Barcelonas sei für einen privaten Wohnsitz eine derartige Summe ausgegeben worden, und das bedeutete etwas. Nicht allen gefiel jedoch dieses Märchen. Kolweniks Partner bei der Velo-Granell war dessen Besessenheit ein Dorn im Auge, da er befürchtete, Kolwenik werde zur Finanzierung seines irrwitzigen Projekts, das Teatro Real zum achten Weltwunder zu machen, Mittel der Firma investieren. Damit lag er nicht ganz falsch. Zudem begann man nun in der Stadt über Kolweniks wenig orthodoxe Praktiken zu munkeln. Es traten Zweifel an seiner Vergangenheit und an seiner Selfmademan-Fassade auf. Dank der unerbittlichen Anwaltsmaschinerie der Velo-Granell erstarben die meisten dieser Gerüchte wieder, ehe sie in die Druckereien der Presse gelangten. Mit Geld kann man sein Glück nicht kaufen, sagte Kolwenik immer, aber dafür kaufte er sich alles andere.