Выбрать главу

In dieser Nacht erzählte mir Michail, er glaube, das Leben gestehe jedem von uns wenige Momente reinen Glücks zu. Manchmal sind es nur Tage oder Wochen. Manchmal Jahre. Alles hängt von unserem Schicksal ab. Die Erinnerung an diese Momente begleitet uns für immer und wird zu einem Land des Gedächtnisses, in das wir im ganzen weiteren Leben umsonst zurückzukehren versuchen. Für mich werden diese Augenblicke immer in dieser ersten Nacht begraben sein, als wir durch die Stadt spazierten.

Die Reaktion von Sergei und Tatjana ließ nicht auf sich warten, vor allem die Sergeis. Er verbot mir, Michail noch einmal zu sehen oder mit ihm zu sprechen, und sagte, wenn ich ohne seine Erlaubnis dieses Theater verlasse, würde er mich umbringen. Zum ersten Mal in meinem Leben entdeckte ich, dass er mir nicht mehr Angst, sondern nur noch Verachtung einflößte. Um ihn noch mehr aufzubringen, sagte ich, Michail habe mir die Ehe angetragen und ich habe eingewilligt. Er rief mir in Erinnerung, dass er mein rechtmäßiger Vormund sei, und er werde nicht nur nicht in meine Ehe einwilligen, sondern wir brächen umgehend nach Lissabon auf. Durch eine Tänzerin der Truppe ließ ich Michail eine verzweifelte Nachricht zukommen. An diesem Abend kam er noch vor der Vorstellung mit zwei Anwälten ins Theater, um sich mit Sergei zu unterhalten. Er verkündete diesem, am selben Nachmittag habe er mit dem Impresario des Teatro Real einen Vertrag unterzeichnet, der ihn zu dessen neuem Besitzer mache. Von diesem Augenblick an seien Sergei und Tatjana entlassen.

Er hielt Sergei ein Dossier mit Dokumenten und Beweisen für seine illegalen Aktivitäten in Wien, Warschau und Barcelona unter die Nase. Mehr als genug Material, um ihn für fünfzehn oder zwanzig Jahre hinter Gitter zu bringen. Alldem fügte er einen Scheck bei über eine Summe, die bei weitem überstieg, was Sergei mit seinen krummen Geschäften in seinem ganzen restlichen Leben erwirtschaften konnte. Das Angebot war folgendes: Verließen Sergei und Tatjana in einer Frist von höchstens achtundvierzig Stunden Barcelona für immer und verpflichteten sie sich, auf keinerlei Weise mehr mit mir Verbindung aufzunehmen, so durften sie das Dossier und den Scheck mitnehmen, andernfalls würde das Dossier der Polizei übergeben werden, begleitet von dem Scheck, um die Justizmaschinerie zu ölen. Sergei wurde halb wahnsinnig vor Wut. Er schrie wie ein Besessener, niemals werde er sich von mir trennen, Kolwenik müsse über seine Leiche gehen, wenn er seinen Willen durchsetzen wolle.

Michail lächelte und verabschiedete sich. An diesem Abend unterhielten sich Tatjana und Sergei mit einem seltsamen Menschen, der sich als gedungener Mörder anpries. Als sie vom Treffpunkt weggingen, setzten anonyme Schüsse aus einem Fuhrwerk ihrem Leben beinahe ein Ende. Die Zeitungen veröffentlichten die Meldung mit unterschiedlichen Hypothesen über die Ursache des Anschlags. Am nächsten Tag akzeptierte Sergei Michails Scheck und verschwand mit Tatjana aus der Stadt, ohne sich zu verabschieden.

Als ich von dem Vorfall erfuhr, begehrte ich von Michail zu wissen, ob er für den Anschlag verantwortlich sei oder nicht. Verzweifelt erhoffte ich mir ein Nein. Er schaute mich fest an und fragte, warum ich an ihm zweifle. Ich glaubte zu sterben. Dieses ganze Kartenhaus von Glück und Hoffnung schien gleich einstürzen zu wollen. Ich wiederholte meine Frage. Michail verneinte. Er sei nicht für den Anschlag verantwortlich.

›Wäre ich es, würde keiner der beiden mehr leben‹, antwortete er ungerührt.

Nun verpflichtete er einen der besten Architekten der Stadt, um nach seinen Anweisungen die Villa neben dem Park Güell zu bauen. Über den Preis wurde keinen Augenblick lang diskutiert. Während der Bauzeit mietete Michail eine ganze Etage des alten Hotels Colón an der Plaza de Cataluña. Da richteten wir uns vorübergehend ein. Zum ersten Mal im Leben erfuhr ich, dass man so viele Bedienstete haben konnte, dass es unmöglich war, sich sämtliche Namen zu merken. Michail hatte nur einen einzigen Helfer, Luis, seinen Fahrer.

Die Juweliere Bagués suchten mich in meinen Gemächern auf. Die besten Couturiers nahmen mir Maß, um mir eine kaiserliche Garderobe zu schneidern. In den vornehmsten Geschäften Barcelonas eröffnete Michail für mich Konten ohne Limit. Leute, die ich noch nie gesehen hatte, grüßten mich ehrerbietig auf der Straße oder in der Hotellounge. Ich bekam Einladungen zu Galabällen in den Palästen von Familien, deren Namen ich höchstens in der Klatschpresse gelesen hatte. Ich war knapp zwanzig. Noch nie hatte ich genügend Geld in der Hand gehabt, um mir auch nur eine Straßenbahnfahrkarte zu kaufen. Ich träumte mit offenen Augen. Langsam fühlte ich mich überladen von so viel Luxus und der Verschwendung um mich herum. Als ich Michail das sagte, antwortete er, Geld sei bedeutungslos, außer man habe keines.

Wir verbrachten die Tage gemeinsam, spazierten durch die Stadt oder besuchten das Kasino des Tibidabo, obwohl ich Michail nie auch nur eine einzige Münze einsetzen sah, oder das Liceo-Theater. In der Dämmerung gingen wir wieder ins Hotel Colón, und Michail zog sich in seine Zimmer zurück. Bald bemerkte ich, dass er oft mitten in der Nacht ausging und erst im Morgengrauen wieder da war. Wie er sagte, hatte er berufliche Verpflichtungen.

Doch das Gemunkel nahm zu. Ich merkte, dass ich einen Mann heiraten würde, den alle besser zu kennen schienen als ich. Hinter meinem Rücken hörte ich die Dienstmädchen tuscheln. Auf der Straße musterten mich die Leute hinter ihrem scheinheiligen Lächeln mit der Lupe. Allmählich wurde ich zu einer Gefangenen meiner eigenen Verdächtigungen. Und ein Gedanke begann mich zu quälen: All dieser Luxus, diese ganze materielle Verschwendung gab mir das Gefühl, bloß ein Einrichtungsgegenstand zu sein, eine weitere Laune von Michail. Er konnte sich alles kaufen: das Teatro Real, Sergei, Autos, Juwelen, Paläste. Und mich. Ich glühte vor Beklommenheit, wenn ich ihn Nacht für Nacht frühmorgens weggehen sah, überzeugt, er suche die Arme einer anderen Frau. Eines Nachts beschloss ich, ihm zu folgen und dieser Geheimniskrämerei ein Ende zu setzen.

Seine Schritte führten mich zu den alten Werkstätten der Velo-Granell neben dem Born-Markt. Michail war allein. Ich musste mich durch ein winziges Fensterchen in einer Gasse zwängen. Das Innere der Fabrik erschien mir wie der Schauplatz eines Albtraums. Hunderte Füße, Hände, Arme, Beine, Glasaugen schwebten in den Hallen… Ersatzteile für eine gebrochene, klägliche Menschheit. Ich durchschritt diese Räume, bis ich zu einem großen, im Dunkeln liegenden Saal mit riesigen Glastanks kam, in denen undefinierbare Formen schwammen. In der Mitte des Saals schaute mich Michail von einem Stuhl im Halbdunkeln an, eine Zigarette rauchend.

›Du hättest mir nicht nachspüren sollen‹, sagte er ohne Zorn in der Stimme.

Ich entgegnete, ich könne keinen Mann heiraten, von dem ich nur die eine Hälfte gesehen habe, von dem ich nur die Tage, nicht aber die Nächte kenne.

›Vielleicht gefällt dir nicht, was du herausfindest‹, deutete er an.

Ich sagte, das Was oder Wie kümmere mich nicht. Es sei mir egal, was er tue oder ob die Gerüchte über ihn stimmten. Ich wolle nur vollständig zu seinem Leben gehören. Ohne Schatten. Ohne Geheimnisse. Er nickte, und mir war klar, dass das hieß, eine Schwelle zu überschreiten, hinter der es kein Zurück mehr gab. Als Michail das Licht im Saal anknipste, erwachte ich aus meinem Traum dieser Wochen. Ich befand mich in der Hölle.

Die Formoltanks enthielten Leichen, die ein makabres Ballett tanzten. Auf einem Metalltisch lag eine vom Bauch bis zum Hals aufgeschnittene nackte Frau. Die Arme waren zum Kreuz ausgebreitet, und ich sah, dass die Ellbogen- und Handgelenke aus Holz und Metall bestanden. Durch den Hals führten Kanülen hinunter, und in den Extremitäten und Hüften steckten Bronzekabel. Die Haut war durchscheinend bläulich wie bei einem Fisch. Ich sah Michail wortlos zu der Leiche treten und sie traurig betrachten.