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›Das ist es, was die Natur mit ihren Kindern anstellt. Es gibt keine Tücke im Herzen der Menschen, sondern nur den Kampf, um das Unvermeidliche zu überleben. Es gibt keinen schlimmeren Teufel als Mutter Natur… Meine Arbeit, mein ganzes Bemühen ist nichts weiter als der Versuch, das große Sakrileg der Schöpfung zu umgehen.‹

Er ergriff eine Spritze und füllte sie mit einer smaragdfarbenen Flüssigkeit aus einem Fläschchen. Unsere Augen begegneten sich kurz, und dann versenkte Michail die Nadel im Schädel der Leiche und leerte die Spritze. Er zog sie wieder heraus und beobachtete einen Augenblick ruhig den leblosen Körper. Sekunden später spürte ich, wie mir das Blut in den Adern gefror. Die Wimpern des einen Auges zitterten. Ich hörte den Mechanismus der Holz- und Metallgelenke. Die Finger flatterten. Plötzlich richtete sich der Körper der Frau in einem heftigen Ruck auf. Ein tierisches, ohrenbetäubendes Geheul erfüllte den Raum. Von den geschwollenen schwarzen Lippen rannen weiße Schaumfäden. Sie löste sich von den ihre Haut durchbohrenden Kabeln und fiel zu Boden, eine kaputte Marionette. Sie heulte wie ein verwundeter Wolf. Dann hob sie das Gesicht und heftete die Augen auf mich. Ich war außerstande, den Blick von dem Schrecken abzuwenden, den ich darin erkannte. Von ihren Pupillen ging eine schauerliche animalische Kraft aus. Sie wollte leben.

Ich war wie gelähmt. Nach wenigen Sekunden war der Körper wieder leblos. Michail, der allem unerschütterlich zugeschaut hatte, deckte die Frau mit einem Tuch zu.

Er trat zu mir und ergriff meine zitternden Hände. Er schaute mich an, als wolle er in meinen Augen lesen, ob ich nach allem, was ich eben gesehen hatte, noch bei ihm bleiben konnte. Ich suchte nach Worten, um meine Angst auszudrücken, um ihm zu sagen, wie sehr ich mich geirrt hatte… Aber ich brachte nur ein Stammeln zustande, er möge mich von hier wegbringen. Das tat er. Wir gingen ins Hotel Colón zurück, wo er mich auf mein Zimmer begleitete, eine Tasse heiße Brühe für mich bestellte und mich zudeckte, während ich sie schlürfte.

›Die Frau, die du diese Nacht gesehen hast, ist vor sechs Wochen unter den Rädern einer Straßenbahn ums Leben gekommen. Sie ist auf die Straße gesprungen, um einen Jungen zu retten, der auf den Schienen spielte, und konnte den Aufprall nicht mehr vermeiden. Die Räder haben ihr die Arme auf Ellbogenhöhe abgetrennt. Noch auf der Straße ist sie gestorben. Niemand kennt ihren Namen. Kein Hahn krähte nach ihr. Es gibt dutzendweise Menschen wie sie. Jeden Tag…‹

›Michail, du verstehst es nicht – du kannst nicht Gottes Arbeit verrichten…‹

Er streichelte mir die Stirn und nickte mit traurigem Lächeln.

›Gute Nacht‹, sagte er.

Er wandte sich zur Tür und blieb stehen, bevor er hinausging.

›Wenn du morgen nicht mehr da bist, kann ich es verstehen.‹

Zwei Wochen später heirateten wir in der Kathedrale von Barcelona.«

23

Michail wollte, dass das ein ganz besonderer Tag für mich würde, und schaffte es, die ganze Stadt zur Märchenkulisse werden zu lassen. Meine Zeit als Kaiserin in dieser Traumwelt endete jäh auf den Stufen der Avenida de la Catedral. Ich hörte nicht einmal mehr das Geschrei der Schaulustigen. Wie ein wildes Tier, das aus dem Gestrüpp springt, löste sich Sergei aus der Menge und goss mir ein Fläschchen Säure ins Gesicht. Sie zerfraß mir die Haut, die Augenlider und die Hände. Sie zerriss meinen Hals und zerstörte meine Stimme. Erst zwei Jahre später konnte ich wieder sprechen, nachdem Michail mich wie eine zerbrochene Puppe wiederhergestellt hatte. Das war erst der Anfang des Horrors.

Der Bau unseres Palasts wurde gestoppt, und wir richteten uns in diesem unfertigen Haus ein. Wir machten daraus ein Gefängnis auf der Spitze eines Hügels. Es war ein kalter, düsterer Ort. Ein Durcheinander von Türmen und Bögen, Gewölben und Wendeltreppen, die nirgends hinführten. Ich lebte zurückgezogen in einem Zimmer zuoberst im Hauptturm. Niemand hatte hier Zutritt außer Michail und manchmal Dr. Shelley. Das erste Jahr verbrachte ich im Morphiumdämmer, gefangen in einem langen Albtraum. Darin glaubte ich Michail mit mir experimentieren zu sehen, so, wie er es mit diesen in Krankenhäusern und Leichenhallen verlassenen Toten getan hatte. Indem er mich rekonstruierte und der Natur ein Schnippchen schlug. Als ich wieder zum Bewusstsein kam, stellte ich fest, dass meine Träume real gewesen waren. Er hatte mir die Stimme zurückgegeben, hatte mir Hals und Mund wiederhergestellt, so dass ich essen und sprechen konnte. Er hatte meine Nervenendigungen verändert, damit ich den Schmerz der Wunden nicht mehr spürte, die die Säure an meinem Körper zurückgelassen hatte. Ja, ich habe den Tod überlistet, aber dadurch bin ich zu einer von Michails verdammten Kreaturen geworden.

Michail wiederum hatte in der Stadt seinen Einfluss verloren. Niemand war auf seiner Seite. Seine ehemaligen Verbündeten wurden abtrünnig und zeigten ihm die kalte Schulter. Die Polizei und die Justizbehörden nahmen die Verfolgung auf. Sentís, sein Teilhaber, war ein schäbiger, neidischer Halsabschneider. Er setzte falsche Informationen in Umlauf, die Michail in tausend trübe Geschäfte verwickelten, von denen er nie eine Ahnung gehabt hatte. Teil der Hetzmeute, wollte ihm Sentís die Kontrolle über die Firma entziehen. Das Heer der Heuchler und Schleimer, jetzt eine Horde hungriger Hyänen, wollte ihn von seinem Podest stürzen sehen, um seine Reste zu verschlingen. Nichts von alledem überraschte Michail. Von Anfang an hatte er nur seinem Freund Dr. Shelley und Luis Claret vertraut. ›Die Schäbigkeit der Menschen‹, sagte er immer, ›ist wie ein Docht, der die Flamme sucht.‹ Doch dieser Verrat zerriss schließlich sein fragiles Band zur Außenwelt. Er flüchtete sich in sein Einsamkeitslabyrinth. Sein Benehmen wurde immer exzentrischer. Er entwickelte die Gewohnheit, in den Kellern Hunderte von schwarzen Schmetterlingen zu züchten, eine unter dem Namen Teufel bekannte Spezies, von der er besessen war. Bald bevölkerten diese schwarzen Insekten den Turm, setzten sich auf Spiegel, Bilder und Möbel wie stumme Wachen. Den Bediensteten verbot Michail, sie zu töten, zu verscheuchen oder sich ihnen auch nur zu nähern. Durch Gänge und Räume flatterte ein Schwarm schwarzgeflügelter Insekten. Manchmal setzten sie sich auf Michail und deckten ihn zu, doch er rührte sich nicht. Wenn ich ihn so sah, fürchtete ich, ihn auf immer zu verlieren.

In diesen Tagen begann meine Freundschaft mit Luis Claret, die bis heute anhält. Er war es, der mich darüber informierte, was sich außerhalb dieser Festungsmauern abspielte. Michail hatte mir falsche Geschichten über das Teatro Real und mein Comeback auf der Bühne aufgetischt. Er sprach davon, den durch die Säure verursachten Schaden wiedergutzumachen, so dass ich mit einer Stimme singen würde, die nicht mehr die meine war… Hirngespinste. Luis erzählte mir, die Bauarbeiten am Teatro Real seien eingestellt worden, die Mittel seien schon vor Monaten aufgebraucht gewesen, das Haus sei eine riesige nutzlose Höhle. Die Gelassenheit, mit der mir Michail begegnete, war reine Fassade. Wochen- und monatelang verließ er das Haus nicht. Ganze Tage blieb er in seinem Studio eingeschlossen, ohne richtig zu essen oder zu schlafen. Joan Shelley erzählte mir später, er habe um seine Gesundheit und seinen Verstand gebangt. Er kannte ihn besser als sonst jemand und hatte ihm von Anfang an in seinen Experimenten beigestanden. Er war es, der mir im Klartext von Michails Besessenheit von degenerativen Krankheiten erzählte, von seinen verzweifelten Versuchen, die Mechanismen zu entdecken, mit denen die Natur die Körper deformierte und verkümmern ließ. Immer hatte er darin eine Kraft, eine Ordnung und einen Willen jenseits aller Vernunft gesehen. In seinen Augen war die Natur eine Bestie, die ihren eigenen Nachwuchs auffraß, ohne sich um das Los der Wesen zu kümmern, die sie beherbergte. Er sammelte Fotos seltener Fälle von Verkümmerungen und medizinischen Monstrositäten. Bei diesen Menschenwesen hoffte er seine Antwort zu bekommen: wie er ihre Dämonen an der Nase herumführen könnte.