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Zu dieser Zeit wurden die ersten Symptome seiner Krankheit sichtbar. Michail wusste, dass er sie in sich trug, und wartete geduldig wie ein Uhrwerk. Er hatte es schon immer gewusst, seit er in Prag seinen Bruder hatte sterben sehen. Sein Körper begann sich selbst zu zerstören. Seine Knochen zerfielen. Er steckte die Hände in Handschuhe, verbarg seinen Körper und sein Gesicht. Er floh meine Gesellschaft. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht, doch es war Tatsache: Seine Erscheinung veränderte sich. An einem Wintertag weckten mich im Morgengrauen seine Schreie. Lauthals entließ er die Bediensteten. Niemand wehrte sich, alle hatten in den vergangenen Monaten Angst vor ihm bekommen. Nur Luis weigerte sich, uns zu verlassen. Weinend vor Wut, zerschmetterte Michail sämtliche Spiegel und verbarrikadierte sich dann in seinem Studio.

Eines Abends bat ich Luis, Dr. Shelley zu holen. Zwei Wochen lang war Michail nicht mehr herausgekommen und hatte auch nicht mehr auf mein Klopfen geantwortet. Ich hörte ihn hinter der Tür schluchzen und mit sich selbst sprechen. Ich war ratlos, er war dabei, mir zu entgleiten. Zu dritt schlugen wir die Tür ein und holten ihn heraus. Entsetzt stellten wir fest, dass sich Michail am eigenen Körper operiert und seine linke Hand wiederherzustellen versucht hatte, die immer mehr zur grotesken, unbrauchbaren Klaue geworden war. Shelley verabreichte ihm ein Beruhigungsmittel, und wir wachten bis zum Morgengrauen über seinen Schlaf. Verzweifelt angesichts der Agonie seines alten Freundes, machte sich Shelley in dieser langen Nacht Luft und brach sein Versprechen, niemals die Geschichte zu erzählen, die ihm Michail Jahre zuvor anvertraut hatte. Als ich seine Worte hörte, begriff ich, dass weder die Polizei noch Inspektor Florián je geahnt hatten, dass sie ein Gespenst verfolgten. Michail war nie ein Verbrecher oder ein Betrüger gewesen. Er war bloß ein Mensch, der dachte, sein Los sei es, den Tod zu übertölpeln, bevor der Tod ihn übertölpelte.«

»Michail Kolwenik erblickte das Licht der Welt am letzten Tag des 19. Jahrhunderts in den Abwasserkanälen von Prag.

Seine Mutter war knapp siebzehn und arbeitete als Dienstmädchen in einem Palast des Hochadels. Wegen ihrer Schönheit und Naivität war sie der Liebling ihres Herrn geworden. Als man ihre Schwangerschaft entdeckte, wurde sie wie ein räudiger Hund auf die schmutzige, schneebedeckte Straße hinausgejagt, fürs restliche Leben gezeichnet. In jenen Jahren überzog der Winter die Straßen mit einer tödlichen Decke. Es hieß, die Mittellosen verbärgen sich in den alten Abwasserkanälen. Die örtliche Legende sprach von einer regelrechten Stadt der Dunkelheit unter den Straßen Prags, wo Tausende Parias ihr Leben verbrachten, ohne je wieder das Sonnenlicht zu sehen – Bettler, Kranke, Waisen und Flüchtlinge. Sie huldigten dem Kult einer rätselhaften Persönlichkeit namens Prinz der Bettler. Es hieß, er sei alterslos, habe das Gesicht eines Engels und sein Blick sei aus Feuer. Er lebe in eine Decke von schwarzen Schmetterlingen gehüllt, die seinen ganzen Körper überzögen, und empfange in seinem Reich alle, denen es die Grausamkeit der Welt verwehrt habe, an der Oberfläche zu überleben. Diese Schattenwelt suchte die junge Frau auf, um in den unterirdischen Tunneln zu überleben. Bald entdeckte sie, dass die Legende stimmte. Die Leute in den Tunneln hausten im Dunkeln und bildeten ihre eigene Welt. Sie hatten ihre eigenen Gesetze und ihren eigenen Gott – den Prinzen der Bettler. Niemand hatte ihn je gesehen, doch alle glaubten an ihn und spendeten ihm Opfergaben. Alle brannten sich das Emblem des schwarzen Schmetterlings ein. Die Prophezeiung lautete, eines Tages werde ein vom Prinzen der Bettler gesandter Messias in die Tunnel kommen und sein Leben hergeben, um ihre Bewohner vom Leiden zu erlösen. Die Verdammnis dieses Messias werde von seinen eigenen Händen kommen.

Dort gebar die junge Mutter Zwillinge: Andrej und Michail. Andrej kam von einer grauenhaften Krankheit gezeichnet zur Welt. Seine Knochen festigten sich nicht, und sein Körper wuchs ohne Form und Struktur heran. Einer der Tunnelbewohner, ein von der Justiz verfolgter Arzt, sagte, die Krankheit sei unheilbar. Das Ende sei nur eine Frage der Zeit. Sein Bruder Michail jedoch war ein Junge von wacher Intelligenz und scheuem Charakter, der davon träumte, eines Tages den Tunneln zu entkommen und die obere Welt zu erblicken. Oft spielte er mit dem Gedanken, vielleicht sei er der erwartete Messias. Nie erfuhr er, wer sein Vater gewesen war, so dass er im Geist diese Rolle dem Prinzen der Bettler zuschrieb, den er im Schlaf zu hören glaubte. An ihm waren keine Anzeichen der schrecklichen Krankheit auszumachen, die dem Leben seines Bruders ein Ende setzen sollte. Tatsächlich starb Andrej mit sieben Jahren, ohne je die Abwasserkanäle verlassen zu haben. Nach seinem Tod wurde seine Leiche gemäß dem Ritual der Tunnelleute den unterirdischen Strömen übergeben.

›Das ist der Wille Gottes, Michail‹, sagte seine Mutter.

Nie sollte Michail diese Worte vergessen. Der Tod des kleinen Andrej war ein Schlag, den seine Mutter nicht verwinden konnte. Im nächsten Winter erkrankte sie an einer Lungenentzündung. Michail verharrte bis zum letzten Moment an ihrer Seite und hielt ihre zitternde Hand. Sie war sechsundzwanzig und hatte das Gesicht einer Greisin.

›Ist das auch der Wille Gottes, Mutter?‹, fragte Michail einen leblosen Körper.

Er bekam nie eine Antwort. Tage später gelangte er an die Oberfläche. Nichts band ihn mehr an die unterirdische Welt. Halb tot vor Hunger und Kälte, suchte er in einem Hauseingang Zuflucht. Der Zufall wollte es, dass ihn dort ein Arzt fand, der von einem Krankenbesuch kam, Antonin Kolwenik. Er las ihn auf und ging mit ihm in eine Taverne, wo er ihm etwas Warmes vorsetzen ließ.

›Wie heißt du, mein Junge?‹

›Michail.‹

Antonin Kolwenik erbleichte.

›Ich hatte einen Sohn, der so hieß wie du. Er ist gestorben. Wo ist deine Familie?‹

›Ich habe keine Familie.‹

›Wo ist deine Mutter?‹

›Gott hat sie zu sich geholt.‹

Der Arzt nickte ernst. Er zog einen Gegenstand aus seinem Köfferchen, der Michail sprachlos machte. Im Inneren des Koffers erblickte er noch mehr Instrumente. Glänzend. Wie ein Wunder.

Der Arzt setzte das seltsame Ding auf seine Brust und steckte sich die beiden Enden in die Ohren.

›Was ist das?‹

›Damit kann man hören, was deine Lungen sagen… Atme tief ein.‹

›Sind Sie ein Zauberer?‹, fragte Michail verdutzt.

Der Arzt lächelte.

›Nein, ich bin kein Zauberer. Ich bin bloß Arzt.‹

›Was ist der Unterschied?‹

Antonin Kolwenik hatte Jahre zuvor seine Frau und seinen Sohn in einer Choleraepidemie verloren. Jetzt lebte er allein, unterhielt eine bescheidene Chirurgenpraxis und frönte seiner Leidenschaft für die Werke Richard Wagners. Neugierig und voller Mitleid betrachtete er den zerlumpten Jungen. Michail zeigte sein Lächeln, das das Beste war, was er anzubieten hatte.

Dr. Kolwenik beschloss, ihn unter seine Fittiche und bei sich aufzunehmen. Dort verbrachte er die nächsten zehn Jahre. Von dem guten Arzt erhielt er eine Ausbildung, ein Heim und einen Namen. Schon als Heranwachsender begann Michail, seinem Adoptivvater bei den Operationen zu assistieren und die Geheimnisse des menschlichen Körpers kennenzulernen. Gottes geheimnisvoller Wille zeigte sich in komplexen Gebilden aus Fleisch und Knochen, belebt von einem Funken unbegreiflicher Magie. Gierig saugte Michail diese Lektionen auf, mit der Gewissheit, dass es in dieser Wissenschaft eine noch zu entdeckende Botschaft gab.

Er war noch keine zwanzig, als ihm der Tod erneut begegnete. Schon seit einiger Zeit hatte es um die Gesundheit des alten Arztes nicht gut gestanden. An einem Heiligabend, als sie eben eine Reise planten, auf der Michail den Süden Europas kennenlernen sollte, zerstörte ein Herzanfall die Hälfte seines Herzens. Antonin Kolwenik lag im Sterben. Michail schwor sich, dass der Tod ihm den Gefährten diesmal nicht entrisse.