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›Mein Herz ist müde, Michail‹, sagte der alte Arzt. ›Es ist Zeit, meine Frida und meinen anderen Michail wiederzusehen…‹

›Ich werde Ihnen ein anderes Herz geben, Vater.‹

Der Arzt lächelte. Dieser merkwürdige Junge und seine ausgefallenen Ideen… Der einzige Grund, warum er diese Welt zu verlassen fürchtete, war, ihn allein und schutzlos zurückzulassen. Michail hatte keine weiteren Freunde als die Bücher. Was sollte aus ihm werden?

›Du hast mir schon zehn Jahre Gesellschaft geschenkt, Michail. Jetzt musst du an dich denken. An deine Zukunft.‹

›Ich werde Sie nicht sterben lassen, Vater.‹

›Michail, erinnerst du dich noch an den Tag, an dem du mich fragtest, welches der Unterschied sei zwischen einem Arzt und einem Zauberer? Nun, es gibt keine Zauberei, Michail. Unser Körper beginnt von Geburt an zu zerfallen. Wir sind zerbrechliche Wesen, Kreaturen auf Zeit. Was von uns zurückbleibt, sind unsere Taten, das Gute oder Böse, das wir unseresgleichen antun. Verstehst du, was ich meine, Michail?‹

Zehn Tage später fand die Polizei den weinenden Michail blutbesudelt neben der Leiche des Mannes, den er Vater zu nennen gelernt hatte. Die Nachbarn hatten die Behörden benachrichtigt, als sie einen seltsamen Geruch wahrnahmen und das Geheul des jungen Mannes hörten. Das Polizeiprotokoll kam zu dem Schluss, verwirrt durch den Tod des Arztes, habe Michail diesen seziert und versucht, mit einem Mechanismus aus Ventilen und Getrieben sein Herz zu reparieren. Michail landete in einem Prager Irrenhaus, dem er zwei Jahre später entkam, indem er sich tot stellte. Als die Behörden im Leichenhaus eintrafen, um seine Überreste zu holen, fanden sie nur ein weißes Laken und umherflatternde schwarze Schmetterlinge.

Michail kam mit dem Keim des Wahnsinns und der Krankheit, die Jahre später zutage treten sollte, nach Barcelona. Er zeigte wenig Interesse an materiellen Dingen und der Gesellschaft der Menschen. Nie bildete er sich etwas ein auf das Vermögen, das er angehäuft hatte, und er sagte immer, niemand verdiene auch nur einen Céntimo mehr zu haben, als er denen zu geben bereit sei, die ihn dringender brauchten als er. An dem Abend, als ich ihn kennenlernte, sagte er, aus irgendeinem Grund schenke uns das Leben das, was wir gar nicht suchten. Ihm hatte es Geld, Ruhm und Macht gebracht. Seine Seele sehnte sich nur nach geistigem Frieden, danach, die in seinem Herzen hausenden Schatten zum Verstummen zu bringen.«

»In den Monaten nach dem Zwischenfall in seinem Studio verbündeten Shelley, Luis und ich uns, um Michail von seinen Obsessionen fernzuhalten und abzulenken. Das war nicht einfach, er wusste immer, wann wir ihn belogen, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Er tanzte nach unserer Pfeife, spielte den Gefügigen und schien sich in seine Krankheit zu schicken, aber wenn ich ihm in die Augen schaute, sah ich darin die Schwärze, in der seine Seele schwamm. Er hatte kein Vertrauen mehr zu uns. Die elende Situation, in der wir lebten, verschlimmerte sich. Die Banken hatten unsere Konten gesperrt, und das Kapital der Velo-Granell war von der Regierung beschlagnahmt worden. Sentís, der sich aufgrund seiner Ränke schon als Alleininhaber der Firma gesehen hatte, war ruiniert. Das Einzige, was er bekam, war Michails ehemalige Wohnung in der Calle Princesa. Wir konnten nur denjenigen Besitz behalten, den Michail auf meinen Namen überschrieben hatte, das Gran Teatro Real, dieses nutzlose Grab, in das ich mich schließlich geflüchtet habe, sowie ein Gewächshaus an der Eisenbahnlinie nach Sarriá, das Michail früher als Werkstatt für seine persönlichen Experimente benutzt hatte.

Damit wir zu essen hatten, verkaufte Luis meinen Schmuck und meine Kleider an den Meistbietenden. Meine Brautgeschenke, die ich nie benutzt hatte, wurden zu unserem Unterhalt. Michail und ich sprachen kaum noch miteinander. Immer missgebildeter, streifte er in unserer Villa umher wie ein Geist. Seine Hände konnten kein Buch mehr halten. Seine Augen hatten Mühe mit dem Lesen. Ich hörte ihn nicht mehr weinen. Jetzt lachte er bloß noch. Sein bitteres Lachen um Mitternacht ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Mit seinen verkümmerten Händen schrieb er in einem Heft Seite um Seite in unlesbaren Lettern voll, ohne dass wir wussten, was er schrieb. Wenn ihn Dr. Shelley besuchen kam, schloss er sich in seinem Studio ein und weigerte sich herauszukommen, bis sein Freund wieder gegangen war. Ich gestand Shelley meine Angst, dass Michail sich das Leben nähme. Shelley sagte, er befürchte etwas noch Schlimmeres. Ich wusste nicht – oder wollte nicht verstehen -, was er meinte.

Seit einiger Zeit ging mir ein anderer unsinniger Gedanke im Kopf umher. Eine Idee, mit der ich Michail und unsere Ehe retten wollte. Ich beschloss, ein Kind zu bekommen, in der Überzeugung, Michail hätte, wenn ich ihm ein Kind schenkte, einen Grund, weiterzuleben und zu mir zurückzukommen. Von dieser Illusion ließ ich mich mitreißen. Mein ganzer Körper brannte danach, dieses rettende, hoffnungspendende Wesen zu empfangen. Ich träumte von der Idee, einen kleinen Michail großzuziehen, rein und unschuldig. Mein Herz sehnte sich danach, wieder die andere Seite seines Vaters zu sehen, frei von allem Kranken. Michail durfte keinesfalls ahnen, was ich ausheckte, sonst hätte er sich rundweg geweigert. Es würde schwer genug sein, einen Augenblick der Zweisamkeit mit ihm zu finden. Wie gesagt, seit einiger Zeit schon ging er mir aus dem Weg. Mit seinen Deformationen fühlte er sich unbehaglich in meiner Gegenwart. Jetzt begann die Krankheit auch auf seine Sprache überzugreifen. Er stammelte, wütend und beschämt. Er konnte nur noch Flüssiges zu sich nehmen. Meine Bemühungen, ihm zu zeigen, dass sein Zustand mich nicht abstieß, dass niemand besser als ich sein Leiden verstand und teilte, schienen alles nur noch zu verschlimmern. Aber ich hatte Geduld, und ein einziges Mal im Leben glaubte ich Michail täuschen zu können. Doch ich täuschte nur mich selbst. Das war der schlimmste meiner Fehler.

Als ich Michail verkündete, wir würden ein Kind bekommen, jagte mir seine Reaktion einen Schrecken ein. Er verschwand fast einen Monat lang. Schließlich fand ihn Luis in dem alten Gewächshaus in Sarriá, bewusstlos. Michail hatte rastlos gearbeitet, hatte sich seinen Hals und seinen Mund rekonstruiert. Seine Erscheinung war ungeheuerlich. Er hatte sich mit einer tiefen, metallischen, bösen Stimme ausgestattet. Seine Kiefer waren gezeichnet von Eckzähnen aus Stahl. Sein Gesicht war, außer an den Augen, nicht wiederzuerkennen. Unter diesem Horror verbrannte die Seele des Michail, den ich liebte, weiter in ihrer eigenen Hölle. Neben seinem Körper fand Luis eine Reihe von Vorrichtungen und Hunderte Pläne. Ich zeigte sie Shelley, während sich Michail in einem langen, dreitägigen Schlaf erholte. Die Schlussfolgerungen des Arztes waren schaudererregend. Michail hatte vollkommen den Verstand verloren. Er hatte vorgehabt, seinen Körper von Grund auf zu rekonstruieren, ehe ihn die Krankheit ganz aufzehrte. Wir schlossen ihn oben im Turm ein, in einer ausbruchssicheren Zelle. Ich brachte unsere Tochter zur Welt, während ich das wilde Geheul meines wie ein Raubtier eingesperrten Mannes hörte. Ich teilte keinen einzigen Tag mit ihr. Dr. Shelley nahm sich ihrer an und gelobte, sie wie seine eigene Tochter aufzuziehen. Sie sollte María heißen und lernte, genau wie ich, ihre wirkliche Mutter nie kennen. Das bisschen Leben, das ich noch im Herzen hatte, ging mit ihr dahin, aber mir war bewusst, dass ich keine andere Wahl hatte. Die bevorstehende Tragödie war mit Händen zu greifen. Ich konnte sie spüren wie Gift. Es galt nur noch auszuharren. Und wie immer kam der endgültige Schlag aus einer Richtung, aus der wir ihn am wenigsten erwarteten.«

»Benjamín Sentís, den Neid und Habsucht in den Ruin getrieben hatten, hatte sich einen Racheplan zurechtgelegt. Schon seinerzeit war er verdächtigt worden, Sergei bei seiner Flucht behilflich gewesen zu sein, nachdem der mich vor der Kathedrale angegriffen hatte. Wie in der düsteren Prophezeiung der Tunnelleute hatten die ihm Jahre zuvor von Michail geschenkten Hände nur dazu gedient, Unheil und Verrat zu stiften. In der letzten Nacht des Jahres 1948 kam Sentís zurück, um Michail, den er aus tiefstem Herzen hasste, den definitiven Dolchstoß zu versetzen.