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In diesen ganzen Jahren hatten meine ehemaligen Vormunde, Sergei und Tatjana, im Untergrund gelebt. Auch sie dürsteten nach Rache, und jetzt war die Stunde gekommen. Sentís wusste, dass Floriáns Einheit am nächsten Tag eine Durchsuchung unseres Hauses beim Park Güell plante, um die mutmaßlichen belastenden Beweise gegen Michail zu finden. Wenn diese Durchsuchung stattfände, würden Sentís’ Lügen und Betrügereien auffliegen. Kurz vor zwölf Uhr gossen Sergei und Tatjana um unser Haus herum mehrere Kanister Benzin aus. Sentís, immer der Feigling im Schatten, sah vom Auto aus die ersten Flammen züngeln und machte sich dann dünn.

Als ich erwachte, stieg der blaue Rauch die Außentreppen hinauf. Das Feuer breitete sich in Minutenschnelle aus. Luis erlöste mich und rettete uns das Leben, indem er vom Balkon auf den Garagenschuppen und von dort in den Garten sprang. Als wir uns umwandten, hüllten die Flammen die ersten beiden Etagen vollkommen ein und leckten nach dem Turm, wo wir Michail eingeschlossen hatten. Ich wollte ins Feuer zurücklaufen, um ihn zu retten, doch Luis beachtete mein Geschrei und meine Schläge nicht und hielt mich in seinen Armen fest. In diesem Augenblick entdeckten wir Sergei und Tatjana. Sergei lachte wie ein Irrer. Tatjana zitterte wortlos. Was danach geschah, daran erinnere ich mich wie an eine Szene aus einem Albtraum. Die Flammen hatten die Turmspitze erreicht, die Fenster barsten in einem Scherbenregen. Unversehens erschien eine Gestalt im Feuer. Ich glaubte zu sehen, wie ein schwarzer Engel sich auf die Mauern stürzte – Michail. Wie eine Spinne krabbelte er über die Wände, an die er sich mit eigens konstruierten Metallklauen klammerte. Er bewegte sich in haarsträubendem Tempo. Sergei und Tatjana beobachteten ihn sprachlos und verstanden nicht, wie ihnen geschah. Der Schatten stürzte sich auf sie und schleifte sie mit übermenschlicher Kraft ins Innere. Als ich sie in dieser Hölle verschwinden sah, verlor ich die Besinnung.

Luis brachte mich an die einzige Zufluchtsstätte, die uns noch geblieben war, die Ruinen des Teatro Real. Es ist bis heute unser Zuhause. Am nächsten Tag verkündeten die Zeitungen die Tragödie. Auf dem Diwan waren zwei verkohlte Leichen in enger Umarmung gefunden worden. Die Polizei nahm an, es handle sich um Michail und mich. Nur wir wussten, dass es in Wirklichkeit Sergei und Tatjana waren. Eine dritte Leiche wurde nie gefunden. Am selben Tag gingen Shelley und Luis zum Gewächshaus, um Michail zu suchen. Sie fanden keine Spur von ihm. Die Verwandlung war beinahe abgeschlossen. Shelley nahm seine sämtlichen Papiere, Pläne und Schriftstücke an sich, um keine Beweise zurückzulassen. Er studierte sie wochenlang in der Hoffnung, in ihnen den Schlüssel zu finden, um zu Michail zu gelangen. Wir wussten, dass er sich irgendwo in der Stadt verbarg, abwartend und seine Verwandlung vervollständigend. Dank seinen Schriften kam Shelley hinter Michails Plan. Die Tagebücher beschrieben ein Serum aus der Essenz der Schmetterlinge, die er jahrelang gezüchtet hatte, das Serum, mit dem ich ihn in der Fabrik der Velo-Granell eine Frau hatte zum Leben erwecken sehen. Schließlich wurde mir klar, was er vorhatte. Michail hatte sich zum Sterben zurückgezogen; er musste sich von seinem letzten Hauch Menschlichkeit befreien, um auf die andere Seite gelangen zu können. Wie der schwarze Schmetterling sollte sich auch sein Körper eingraben, um aus der Finsternis zu auferstehen. Und wenn er zurückkäme, würde er es nicht mehr als Michail Kolwenik tun, sondern als Bestie.«

Ihre Worte hallten im Gran Teatro Real wider.

»Monatelang hörten wir nichts von Michail, und auch sein Versteck fanden wir nicht«, fuhr Ewa Irinowa fort.»Im Grunde hegten wir die Hoffnung, sein Plan möchte scheitern. Wir sollten uns irren. Ein Jahr nach dem Brand suchten zwei Inspektoren, alarmiert durch einen anonymen Anruf, die Velo-Granell auf. Natürlich wieder einmal Sentís. Da er nichts mehr von Sergei und Tatjana gehört hatte, vermutete er, Michail sei noch am Leben. Die Fabrikgebäude waren von Amtes wegen geschlossen, niemand hatte Zutritt zu ihnen. Die beiden Inspektoren ertappten einen Eindringling. Sie schossen ihre Magazine auf ihn leer, aber…«

»Aus diesem Grund wurden die Kugeln nie gefunden.«Ich erinnerte mich an Floriáns Worte.»Kolweniks Körper nahm die ganzen Schüsse in sich auf…«

Die alte Dame nickte.

»Man fand die Leichen der beiden Polizisten vollkommen zerfetzt«, sagte sie.»Niemand hatte eine Erklärung für den Vorfall. Außer Shelley, Luis und mir. Michail war zurückgekehrt. In den darauffolgenden Tagen kamen sämtliche Mitglieder des Direktoriums der Velo-Granell, die ihn verraten hatten, unter wenig geklärten Umständen zu Tode. Wir vermuteten, Michail verberge sich in den Abwasserkanälen und benutze die Tunnel, um sich in der Stadt fortzubewegen. Das war ja keine unbekannte Welt für ihn. Es blieb nur noch eine Ungewissheit: Warum war er in die Fabrik zurückgegangen? Einmal mehr lieferten uns seine Arbeitshefte die Antwort: das Serum. Er musste sich das Serum spritzen, um am Leben zu bleiben. Die Reserven im Turm waren vernichtet worden und die Reserven im Gewächshaus sicherlich aufgebraucht. Dr. Shelley bestach einen Polizeioffizier, um die Fabrik betreten zu können. Dort fanden wir einen Schrank mit den beiden letzten Fläschchen Serum. Unbemerkt nahm Shelley eines an sich. Nachdem er ein Leben lang gegen Krankheit, Tod und Schmerz angekämpft hatte, war er unfähig, dieses Serum zu vernichten. Er musste es studieren, sein Geheimnis ergründen. Nachdem er es analysiert hatte, gelang es ihm, auf Quecksilberbasis eine Verbindung herzustellen, die seine Kraft neutralisieren sollte. Er tränkte zwölf silberne Kugeln mit dieser Verbindung und verwahrte sie in der Hoffnung, nie auf sie zurückgreifen zu müssen.«

Mir war klar, dass ich dank diesen Kugeln, die Shelley Luis Claret gegeben hatte, noch am Leben war.

»Und Michail?«, fragte Marina.»Ohne das Serum…«

»Wir haben seine Leiche in einem Kanal unter dem Barrio Gótico gefunden«, sagte Ewa Irinowa.»Das heißt, was von ihm übrig war, denn er war zu einer Ausgeburt der Hölle geworden, die nach dem Aas stank, aus dem er sich konstruiert hatte…«

Die alte Frau schaute zu ihrem alten Freund Luis auf. Der Fahrer vervollständigte die Geschichte.

»Wir haben die Leiche auf dem Friedhof Sarriá beerdigt, in einem namenlosen Grab«, erzählte er.»Offiziell war Señor Kolwenik schon ein Jahr früher gestorben. Die Wahrheit durften wir aber nicht preisgeben. Wenn Sentís erfahren hätte, dass die Señora noch am Leben war, hätte er keine Ruhe gegeben, bis sie ebenfalls aus dem Weg geräumt wäre. Wir haben uns selbst zu einem Geheimleben an diesem Ort verdammt…«

»Jahrelang glaubte ich, Michail ruhe in Frieden. Jeden letzten Sonntag im Monat ging ich dorthin, um ihn zu besuchen und ihm in Erinnerung zu rufen, dass wir uns schon bald, sehr bald wieder vereinigen würden. Wir lebten in einer Welt der Erinnerungen, und dennoch hatten wir etwas Wesentliches vergessen…«

»Was?«, fragte ich.

»María, unsere Tochter.«

Marina und ich tauschten einen Blick. Ich erinnerte mich, dass Shelley das Foto, das wir ihm gezeigt hatten, in die Flammen geworfen hatte. Das Mädchen, das darauf zu sehen war, war María Shelley.

Als wir das Album aus dem Gewächshaus mitgenommen hatten, hatten wir Michail Kolwenik die einzige Erinnerung an seine Tochter gestohlen, die er niemals kennenlernen durfte.

»Shelley zog María wie seine eigene Tochter groß, aber sie ahnte immer, dass die Geschichte nicht stimmte, die ihr der Arzt erzählte, nämlich dass ihre Mutter bei der Geburt gestorben sei. Shelley war kein guter Lügner. Mit der Zeit fand María im Arbeitszimmer des Arztes Michails alte Hefte und setzte sich die Geschichte zusammen, die ich euch erzählt habe. María wurde mit dem Irrsinn ihres Vaters geboren. Ich erinnere mich, dass Michail, als ich ihm von meiner Schwangerschaft berichtete, gelächelt hat. Dieses Lächeln erfüllte mich mit Unruhe, aber damals wusste ich nicht, warum. Erst Jahre später entdeckte ich in seinen Schriften, dass sich der schwarze Schmetterling der Abwasserkanäle von seiner eigenen Brut ernährt und dass er, wenn er sich zum Sterben eingräbt, dies zusammen mit dem Körper einer seiner Larven tut, die er dann beim Auferstehen verschlingt. Als ihr das Gewächshaus entdeckt habt, nachdem ihr mir vom Friedhof gefolgt wart, fand auch María endlich, was sie jahrelang gesucht hatte – das Fläschchen mit dem Serum, das Shelley verbarg. Nach dreißig Jahren kehrte Michail aus dem Tod zurück. Seither hat er sich am Leben erhalten, indem er sich aus den Stücken anderer Körper immer wieder neu gemacht und Kraft erlangt und weitere seinesgleichen erschaffen hat…«