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Ich schluckte und erinnerte mich daran, was ich in der Vornacht in den Tunneln gesehen hatte.

»Als mir klarwurde, was da vor sich ging«, fuhr die Dame fort,»wollte ich Sentís warnen, dass er als Erster fallen würde. Um meine Identität nicht preiszugeben, habe ich dich benutzt, Óscar, mit dieser Karte. Ich dachte, wenn er sie sähe und das Wenige hörte, was ihr wusstet, würde ihn die Angst reagieren lassen und er würde sich vorsehen. Ein weiteres Mal hatte ich diesen schäbigen Alten überschätzt. Er wollte Michail aufsuchen und ihn zerstören. Er riss Florián mit sich… Luis ging auf den Friedhof von Sarriá und stellte fest, dass das Grab leer war. Anfänglich vermuteten wir, Shelley habe uns verraten. Wir dachten, er sei es gewesen, der das Gewächshaus aufgesucht habe, um neue Geschöpfe zu erschaffen. Vielleicht mochte er nicht sterben, ohne die Geheimnisse zu verstehen, die Michail ohne Erklärung hinterlassen hatte. Nie waren wir sicher in Bezug auf ihn. Als wir begriffen, dass er nur versuchte, María zu beschützen, war es schon zu spät. Jetzt wird Michail uns heimsuchen.«

»Warum?«, fragte Marina.»Warum sollte er hierher zurückkehren?«

Schweigend knöpfte die Dame die beiden obersten Knöpfe ihres Kleides auf und zog eine Kette hervor. Daran hing ein Glasfläschchen, in dem eine smaragdgrüne Flüssigkeit glänzte.

»Darum.«

24

Als ich das Serumfläschchen gegen das Licht betrachtete, hörte ich es. Auch Marina hatte es gehört. Irgendetwas schleppte sich über die Theaterkuppel.

»Sie sind da«, sagte Luis Claret in der Tür mit düsterer Stimme.

Ewa Irinowa schien nicht überrascht und verwahrte das Fläschchen wieder. Luis Claret zog seinen Revolver und prüfte das Magazin. Darin glitzerten die Silberkugeln, die ihm Shelley gegeben hatte.

»Nun müsst ihr gehen«, befahl uns Ewa Irinowa.»Jetzt kennt ihr ja die Wahrheit. Lernt sie vergessen.«

Ihr Gesicht war hinter dem Schleier verborgen und ihre mechanische Stimme ausdruckslos. Ich verstand nicht, worauf sie mit ihren Worten hinauswollte.

»Ihr Geheimnis ist bei uns in Sicherheit«, sagte ich.

»Die Wahrheit ist immer in Sicherheit vor den Menschen«, antwortete sie.»Geht schon.«

Claret bedeutete uns, ihm zu folgen, und wir verließen die Garderobe. Der Mond warf durch die Glaskuppel einen Flecken silbernen Lichts auf die Bühne, in dem sich wie tanzende Schatten die Gestalten Michail Kolweniks und seiner Geschöpfe abzeichneten. Als ich hinaufschaute, glaubte ich beinahe ein Dutzend von ihnen zu sehen.

»Mein Gott«, flüsterte Marina neben mir.

Claret schaute ebenfalls hinauf; in seinem Blick erkannte ich Angst. Eine der Gestalten schlug brutal auf das Glasdach ein. Claret entsicherte den Revolver und zielte. Das Wesen schlug weiter zu – es war nur eine Frage von Sekunden, bis das Glas nachgab.

»Unten im Orchestergraben gibt es einen Tunnel, der unter dem Parkett hindurch zum Foyer führt.«Beim Sprechen wandte Claret die Augen nicht von der Kuppel ab.»Unter der Haupttreppe werdet ihr eine Falltür finden, die auf einen Gang führt. Folgt ihm bis zum Notausgang.«

»Wäre es nicht einfacher, wieder so zurückzugehen, wie wir gekommen sind?«, fragte ich.»Durch Ihre Wohnung…«

»Nein, dort waren sie schon.«

Marina zog mich mit sich fort.

»Tun wir, was er sagt, Óscar.«

Ich schaute Claret an. In seinen Augen war die Entschlossenheit dessen zu lesen, der mit bloßem Gesicht in den Tod geht. Eine Sekunde später zerbarst die gläserne Kuppel in tausend Stücke, und eine wölfische Kreatur stürzte sich heulend auf die Bühne herab. Claret schoss auf ihren Schädel und traf ins Schwarze, doch oben zeichneten sich schon die Umrisse der übrigen Geschöpfe ab. In der Mitte erkannte ich sogleich Kolwenik. Auf ein Zeichen von ihm robbten alle heran.

Marina und ich sprangen in den Orchestergraben und folgten Clarets Anweisungen, während er uns den Rücken freihielt. Ich hörte einen weiteren ohrenbetäubenden Schuss. Bevor ich den engen Gang betrat, schaute ich mich ein letztes Mal um. Ein in blutige Lumpen gehüllter Körper sprang auf die Bühne herunter und stürzte auf Claret zu. Der Schuss hatte ihm faustgroß ein rauchendes Loch in die Brust gerissen. Doch er ging immer noch weiter, als ich die Falltür zuzog und Marina in den Gang drängte.

»Was wird aus Claret werden?«

»Ich weiß es nicht«, log ich.»Lauf.«

Wir rannten durch den Tunnel. Er war höchstens einen Meter breit und anderthalb hoch. Man musste sich bücken, um voranzukommen, und sich die Wände entlangtasten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Kaum waren wir einige Meter weit gelangt, als wir Schritte über uns vernahmen. Sie hatten uns unter dem Parkett aufgespürt und verfolgten uns. Der Widerhall der Schüsse wurde immer lauter. Ich fragte mich, wie viel Zeit und wie viele Schüsse Claret noch haben mochte, bevor er von dieser Meute zerfetzt würde.

Auf einmal wurde über unseren Köpfen eine Platte morschen Holzes hochgerissen. Schneidend drang das Licht herein und blendete uns, und etwas fiel uns vor die Füße, ein totes Gewicht. Claret. Seine Augen waren leer, ohne Leben. In seiner Hand rauchte noch der Revolverlauf. Es gab keine Wunden oder sonstigen Spuren von Gewalt an seinem Körper, aber irgendetwas stimmte nicht. Marina schaute über mich hinweg und stöhnte auf. Man hatte ihm mit brutaler Gewalt den Hals umgedreht, so dass sein Gesicht nach hinten schaute. Ein Schatten hüllte uns ein, und ein schwarzer Schmetterling setzte sich auf Kolweniks treuen Freund. In meiner Verwirrung bemerkte ich Michails Anwesenheit nicht, bis er durch das morsche Holz griff und mit seiner Klaue Marinas Hals umfasste. Er zog sie wie eine Feder zu sich herauf, bevor ich sie festhalten konnte. Ich rief seinen Namen. Und da sprach er zu mir. Nie werde ich seine Stimme vergessen.

»Wenn du deine Freundin in einem Stück wiedersehen willst, dann bring mir das Fläschchen.«

Mehrere Sekunden lang konnte ich keinen Gedanken fassen. Dann holte mich die Angst in die Wirklichkeit zurück. Ich beugte mich über Clarets Körper und versuchte ihm die Waffe zu entwinden. In den letzten Zuckungen hatten sich seine Handmuskeln verkrampft. Der Zeigefinger steckte im Abzug. Finger um Finger lösend, erreichte ich schließlich mein Ziel. Ich öffnete die Trommel und stellte fest, dass keine Munition mehr drin war. Auf der Suche nach weiteren Kugeln tastete ich Clarets Taschen ab. In seinem Jackett fand ich die zweite Ladung, sechs Silberkugeln mit durchbohrter Spitze. Der arme Mann hatte keine Zeit mehr gehabt, die Waffe nachzuladen. Der Schatten des Freundes, dem er sein ganzes Dasein hingegeben hatte, hatte ihm vorher mit einem kurzen, brutalen Schlag das Lebenslicht ausgeblasen. Nachdem er sich so viele Jahre vor dieser Begegnung gefürchtet hatte, war Claret vielleicht außerstande gewesen, auf Michail Kolwenik – oder was von ihm noch geblieben war – zu schießen.

Zitternd kletterte ich die Mauern des Tunnels hoch ins Parkett und machte mich auf die Suche nach Marina.