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Dr. Shelleys Kugeln hatten die Bühne mit Leichen übersät. Weitere hingen in den großen Lüstern und über den Logenbrüstungen. Luis Claret hatte die ganze Meute in Kolweniks Begleitung umgelegt. Als ich die Kadaver sah, ungeheuerliche Ausgeburten, musste ich unweigerlich denken, das sei noch das beste Los gewesen, das sie hatten anstreben können. Wie sie so ohne Leben dalagen, wurde die Künstlichkeit ihrer Transplantate und Bestandteile noch deutlicher. Eine der Leichen lag mit ausgerenkter Kinnlade im Mittelgang des Parketts auf dem Rücken. Ich schritt über sie hinweg. Die Leere ihrer dunklen Augen ließ mich zutiefst erschauern. Nichts war darin, nichts.

Ich näherte mich der Bühne und erklomm die Bretter. Das Licht in Ewa Irinowas Garderobe brannte noch, doch niemand war da. Es roch nach Aas. Auf den alten Fotos an den Wänden erkannte man blutige Fingerabdrücke. Kolwenik. Ich hörte ein Knacken in meinem Rücken und schnellte mit gezücktem Revolver herum.

»Ewa?«

Ich trat wieder auf die Bühne hinaus und erblickte im Rang einen bernsteinfarbenen Lichtkreis. Als ich mich näherte, erkannte ich Ewa Irinowas Gestalt. Sie hielt einen Kandelaber in der Hand und betrachtete die Ruinen des Gran Teatro Real. Die Ruinen ihres Lebens. Sie wandte sich um und hob langsam die Flammen an die abgeschabten Samtzungen, die von den Logen hingen. Sogleich ging der ausgetrocknete Stoff in Flammen auf. So legte sie die Feuerspur, die sich rasch über die Logenwände, die vergoldeten Emailarbeiten und Parkettplätze ausbreitete.

»Nein!«, rief ich.

Sie schenkte mir keine Beachtung und verschwand durch die Tür, die hinter den Logen zur Galerie führte. In Sekundenschnelle breiteten sich die Flammen zu wütendem Toben aus, das alles auf seinem Weg verschlang. Der Glanz zeigte das Gran Teatro in einem neuen Licht. Ich verspürte eine Hitzewelle, und der Gestank nach brennendem Holz und Anstrich bereitete mir Übelkeit.

Ich verfolgte, wie die Flammen aufstiegen. In der Höhe erkannte ich die Bühnenmaschinerie, ein komplexes System von Seilen, Vorhängen, Rollen, aufgezogenen Kulissen und Laufbrücken. Von dort beobachteten mich zwei glühende Augen – Kolwenik. Mit einer einzigen Hand hielt er Marina fest wie ein Spielzeug. Er bewegte sich mit katzenhafter Gewandtheit zwischen den Gerüsten. Ich wandte mich um und stellte fest, dass sich die Flammen im ganzen ersten Rang ausgebreitet hatten und zu den Logen des zweiten hinaufzüngelten. Das Loch in der Kuppel schürte das Feuer noch, so dass sich ein riesiger Schornstein bildete.

Ich eilte zu einer Holztreppe. Sie führte im Zickzack hinauf und erzitterte unter meinen Schritten. Auf der Höhe des dritten Rangs blieb ich stehen und schaute empor. Ich hatte Kolwenik verloren. In diesem Augenblick bohrten sich mir Klauen in den Rücken. Ich entwand mich der tödlichen Umarmung und sah mich einer von Kolweniks Kreaturen gegenüber. Clarets Schüsse hatten ihr einen Arm abgetrennt, aber sie lebte noch. Sie hatte lange Haare, und ihr Gesicht war einmal das einer Frau gewesen. Ich zielte mit dem Revolver auf sie, aber sie blieb nicht stehen. Unversehens überfiel mich die Gewissheit, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Der Abglanz der Flammen offenbarte mir, was von ihrem Blick noch übrig war. Ich spürte, wie mein Hals austrocknete.

»María?«, stammelte ich.

Kolweniks Tochter beziehungsweise das Wesen, das in ihrer Schale hauste, zögerte einen Augenblick.

»María?«, rief ich noch einmal.

Nichts war mehr da von der engelhaften Ausstrahlung, die ich von ihr in Erinnerung hatte. Ihre Schönheit war zum elenden, schaudererregenden Ungeziefer verstümmelt worden. Ihre Haut war noch frisch. Kolwenik hatte rasch gearbeitet. Ich senkte den Revolver und versuchte, dieser armen Frau eine Hand entgegenzustrecken. Vielleicht gab es noch Hoffnung für sie.

»María? Erkennen Sie mich? Ich bin Óscar. Óscar Drai. Erinnern Sie sich an mich?«

María Shelley schaute mich durchdringend an. Einen kurzen Moment spiegelte ihr Blick einen Hauch von Leben. Ich sah sie Tränen vergießen und die verbleibende Hand heben. Ich betrachtete die groteske Metallklaue, die ihrem Arm entwuchs, und hörte sie stöhnen. Ich reichte ihr die Hand. Zitternd wich sie einen Schritt zurück.

Über einer der Stangen, die den Hauptvorhang trugen, explodierte ein Feuerstoß. Der Stoff wurde zu einer Flammendecke. Die Kordeln, die ihn zusammengehalten hatten, zerstoben wie brennende Peitschen, und die Laufbrücke, auf der wir standen, befand sich in ihrem Zentrum. Zwischen uns zeichnete sich eine Feuerlinie ab. Noch einmal streckte ich Kolweniks Tochter die Hand hin.

»Nehmen Sie meine Hand – bitte!«

Sie zog sich zurück, floh vor mir. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die Plattform unter unseren Füßen quietschte.

»María, bitte…«

Das Wesen betrachtete die Flammen, als gäbe es in ihnen etwas zu erkennen. Sie warf mir einen letzten, rätselhaften Blick zu und packte das brennende Seil, das sich über die Plattform spannte. Das Feuer griff auf ihren Arm, auf den Oberkörper, die Haare, Kleider und ihr Gesicht über. Sie loderte wie eine Wachsfigur, bis die Bretter zu ihren Füßen nachgaben und sie in den Abgrund stürzte.

Ich lief zu einem der Ausgänge des dritten Rangs. Ich musste Ewa Irinowa finden und Marina retten.

»Ewa!«, rief ich, als ich sie endlich ausfindig gemacht hatte.

Sie ignorierte meinen Ruf und ging weiter. Auf der mittleren Marmortreppe holte ich sie ein und packte sie fest am Arm, so dass sie stehen bleiben musste. Sie rangelte, um sich loszureißen.

»Er hat Marina. Wenn ich ihm nicht das Serum gebe, wird er sie umbringen.«

»Deine Freundin ist bereits tot. Mach, dass du von hier wegkommst, solange du noch kannst.«

»Nein!«

Ewa Irinowa schaute sich um. Rauchspiralen glitten über die Treppe. Es blieb nicht mehr viel Zeit.

»Ohne sie kann ich nicht gehen.«

»Du begreifst es nicht«, antwortete sie.»Wenn ich dir das Serum gebe, wird er euch beide umbringen, und niemand wird ihn davon abhalten können.«

»Er will niemanden umbringen, er will bloß leben.«

»Du verstehst es noch immer nicht, Óscar. Ich kann nichts tun. Alles liegt in Gottes Hand.«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging davon.

»Niemand kann die Arbeit Gottes verrichten. Nicht einmal Sie«, sagte ich, um sie an ihre eigenen Worte zu erinnern.

Sie blieb stehen. Ich hob den Revolver und zielte. Das Knacken des Schlagbolzens beim Entsichern verlor sich im Echo der Galerie. Das bewirkte, dass sie sich umdrehte.

»Ich versuche nur, Michails Seele zu retten«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, ob Sie Kolweniks Seele retten können, Ihre eigene aber schon.«

Die Dame schaute mich wortlos an und sah sich dem bedrohlichen Revolver in meinen zitternden Händen gegenüber.

»Wärst du fähig, kaltblütig auf mich zu schießen?«, fragte sie.

Ich gab keine Antwort, da ich keine hatte. Das Einzige, was meinen Geist gefangen hielt, war das Bild von Marina in Kolweniks Klauen und die wenigen Minuten, die noch blieben, bis die Flammen über dem Gran Teatro Real endgültig die Höllentore öffneten.

»Deine Freundin muss dir viel bedeuten.«Ich nickte und glaubte zu sehen, wie diese Frau das traurigste Lächeln ihres Lebens andeutete.»Weiß sie es?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich, ohne nachzudenken.

Sie nickte langsam und zog das smaragdfarbene Fläschchen hervor.

»Du und ich, wir sind gleich, Óscar. Wir sind allein und dazu verdammt, jemanden zu lieben, für den es keine Rettung gibt…«

Sie reichte mir das Fläschchen. Ich senkte die Waffe, legte sie auf den Boden und ergriff es mit beiden Händen. Bei seinem Anblick fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich wollte mich bedanken, doch Ewa Irinowa war schon nicht mehr da. Der Revolver auch nicht.

Als ich in den obersten Rang gelangte, lag das ganze Haus zu meinen Füßen in den letzten Zügen. Ich lief zum Ende der Galerie und suchte einen Eingang ins Gewölbe der Bühnenmaschinerie. Plötzlich schoss eine der Türen in Flammen gehüllt aus den Angeln. Ein Feuerstrom überschwemmte die Galerie. Ich war gefangen. Verzweifelt schaute ich mich um und sah einen einzigen Ausweg – die Fenster, die nach außen gingen. Ich lief auf die rauchgetrübten Scheiben zu und konnte auf der anderen Seite ein schmales Gesims sehen. Das Feuer bahnte sich seinen Weg zu mir. Wie von einem teuflischen Atem berührt, barsten die Fensterscheiben. Meine Kleider rauchten. Ich konnte die Flammen auf der Haut spüren. Ich glaubte zu ersticken und sprang auf das Gesims hinaus. Die kalte Nachtluft peitschte mich, und weit unten sah ich die Straßen von Barcelona. Der Anblick war grauenhaft. Das Feuer hatte das Gran Teatro Real vollkommen eingehüllt. Das Gerüst war zu Asche geworden und eingestürzt. Die ehemalige Fassade erhob sich wie ein majestätischer Barockpalast, eine Flammenkathedrale im Zentrum des Raval. Die Sirenen der Feuerwehr jaulten, als beklagten sie ihre Ohnmacht. Neben der Metallnadel, in der das Netz der stählernen Kuppelnerven zusammenlief, hielt Kolwenik Marina fest.