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Ich kramte meine Siebensachen zusammen und schrieb eine Notiz. Darin verabschiedete ich mich von Germán und Marina und bedankte mich für ihre Gastfreundschaft. Aus Gründen, die ich mir nicht zu erklären vermochte, war etwas zerbrochen, und ich fühlte mich an diesem Ort überzählig. Am frühen Morgen legte ich den Zettel auf den Küchentisch und machte mich auf zum Internat. Als ich davonging, war ich sicher, dass mich Marina von ihrem Fenster aus beobachtete. Ich winkte zum Abschied, in der Hoffnung, sie sähe mich. In den menschenleeren Straßen hinterließen meine Schritte Spuren im Schnee.

Noch fehlten einige Tage, bis die übrigen Kameraden zurückkamen. Die Zimmer im vierten Stock waren Höhlen der Einsamkeit. Als ich auspackte, stattete mir Pater Seguí einen Besuch ab. Ich begrüßte ihn mit formeller Höflichkeit und räumte weiter meine Kleider ein.

»Seltsame Menschen, diese Schweizer«, sagte er.»Während alle anderen ihre Sünden verbergen, packen sie sie mit Schnaps und einer Schleife in Silberpapier und lassen sie sich mit Gold aufwiegen. Der Präfekt hat mir aus Zürich eine riesige Schachtel Pralinen geschickt, und hier gibt es niemanden, mit dem ich sie teilen kann. Jemand wird mir helfen müssen, bevor Doña Paula sie entdeckt.«

»Sie können auf mich zählen«, sagte ich ohne große Überzeugung.

Seguí trat ans Fenster und schaute auf die Stadt zu unseren Füßen hinunter, eine Fata Morgana. Dann wandte er sich um und sah mich an, als könnte er meine Gedanken lesen.

»Ein guter Freund hat einmal zu mir gesagt, die Probleme seien wie Kakerlaken.«Immer wenn er ernst sein wollte, verfiel er in einen scherzhaften Ton.»Wenn man sie ans Licht holt, erschrecken sie und machen sich auf und davon.«

»Das muss ein weiser Freund gewesen sein«, antwortete ich.

»Nein. Aber er war ein guter Mensch. Frohes neues Jahr, Óscar.«

»Frohes neues Jahr, Pater.«

In den Tagen bis zum Unterrichtsbeginn verließ ich mein Zimmer nur selten. Ich versuchte zu lesen, doch die Worte entflogen den Seiten. Die Stunden vergingen, während ich am Fenster Germáns und Marinas altes Haus in der Ferne betrachtete. Tausendmal wollte ich dahin zurück, und ein paarmal wagte ich mich tatsächlich bis zur Mündung des Sträßchens vor, das zu ihrem Tor führte. Germáns Grammophon war nicht mehr zwischen den Bäumen hindurch zu hören, nur der Wind in den kahlen Ästen. Nachts durchlebte ich immer wieder die Ereignisse der vergangenen Wochen, bis ich erschöpft in einen fieberhaften, erstickenden Schlaf ohne Erholung fiel.

Eine Woche später begann der Unterricht. Es waren bleierne Tage, die Fenster beschlagen, die Radiatoren im Halbdunkel tropfend. Meine alten Kameraden und ihr Geschnatter waren mir fremd. Geschwätz von Geschenken, Festtagen und Erinnerungen, das ich weder teilen konnte noch wollte. Die Stimmen meiner Lehrer entzogen sich mir. Es gelang mir nicht, herauszufinden, welche Bedeutung Humes Elaborate hatten oder was die Gleichungen mit mehreren Unbekannten dazu beitragen konnten, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das Schicksal von Michail Kolwenik und Ewa Irinowa zu ändern. Oder mein eigenes.

Die Erinnerung an Marina und an die gemeinsam erlebten schaurigen Ereignisse machte es mir unmöglich, zu denken, zu essen oder ein zusammenhängendes Gespräch zu führen. Sie war die einzige Person, mit der ich meine Angst teilen konnte, und ihre Gegenwart wurde so dringend, dass mich der Körper zu schmerzen begann. Ich verbrannte innerlich, und niemand und nichts konnte mir Erleichterung verschaffen. Ich wurde zu einer grauen Gestalt in den Gängen. Mein Schatten verschmolz mit den Wänden. Die Tage fielen wie welkes Laub. Ich wartete auf eine Notiz, auf ein Zeichen von Marina, sie wolle mich wiedersehen – einen schlichten Vorwand, um zu ihr zu laufen und die Distanz zwischen uns aufzuheben, die täglich größer zu werden schien. Das Zeichen kam nie. Ich vertat die Stunden, indem ich die Orte wieder aufsuchte, an denen ich mit ihr gewesen war. Ich setzte mich auf die Bänke der Plaza de Sarriá in der Hoffnung, sie vorbeigehen zu sehen.

Ende Januar rief mich Pater Seguí in sein Arbeitszimmer. Mit düsterem Gesicht und bohrenden Augen fragte er, was mit mir los sei.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.

»Wenn wir davon sprechen, finden wir vielleicht heraus, was es ist.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich so heftig, dass es mir sogleich leidtat.

»Du hast über Weihnachten eine Woche außer Haus verbracht. Darf ich fragen, wo?«

»Bei meiner Familie.«

Der Blick meines Tutors tönte sich mit Schatten.

»Wenn du mich anlügen willst, ist es sinnlos, dieses Gespräch fortzusetzen, Óscar.«

»Es ist die Wahrheit. Ich war bei meiner Familie.«

Der Februar brachte die Sonne. Im Winterlicht schmolz die Decke aus Eis und Raureif, die die Stadt verschleiert hatte. Das gab mir Mut, so dass ich mich eines Tages zu Marinas Haus aufmachte. Eine Kette sicherte das Gittertor. Jenseits der Bäume bot das alte Haus einen verlasseneren Anblick denn je. Einen Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu haben. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Die Bewohner dieses geisterhaften Hauses, die Geschichte von Kolwenik und der Dame in Schwarz, Inspektor Florián, Luis Claret, die zum Leben auferweckten Kreaturen, Wesen, die die schwarze Hand des Schicksals eines ums andere hatte verschwinden lassen… Hatte ich etwa Marina und ihren magischen Strand bloß geträumt?

»Wir erinnern uns nur an das, was nie geschehen ist…«

In dieser Nacht erwachte ich schreiend, in kalten Schweiß gebadet und ohne zu wissen, wo ich mich befand. Im Traum war ich in Kolweniks Kanäle zurückgekehrt. Ich folgte Marina, ohne sie einholen zu können, bis ich sah, dass sie voller schwarzer Schmetterlinge war, die beim Auffliegen jedoch nur Leere hinterließen, eine kalte Leere ohne Erklärung. Der zerstörerische Dämon, von dem Kolwenik besessen war. Das Nichts hinter der letzten Dunkelheit.

Als Pater Seguí und mein Kamerad JF, alarmiert durch meine Schreie, in mein Zimmer kamen, brauchte ich einige Sekunden, um sie zu erkennen. Seguí fühlte mir den Puls, während mich JF konsterniert betrachtete, überzeugt, sein ehemaliger Freund sei vollkommen übergeschnappt. Sie wichen nicht von meiner Seite, bis ich wieder eingeschlafen war.

Nachdem ich Marina zwei Monate nicht mehr gesehen hatte, beschloss ich am nächsten Tag, zu dem alten Haus in Sarriá zurückzukehren. Und ich würde nicht eher wieder weichen, als bis ich eine Erklärung bekommen hätte.

26

Es war ein nebliger Sonntag. Die Schatten der Bäume mit ihren dürren Ästen zeichneten Skelette auf den Gehsteig. Die Kirchenglocken begleiteten im Takt meine Schritte. Vor dem Gittertor, das mir den Eintritt verwehrte, blieb ich stehen. Aber ich entdeckte Reifenspuren im Laub und fragte mich, ob Germán wohl seinen alten Tucker wieder aus der Garage geholt hatte. Wie ein Dieb sprang ich übers Gitter und drang in den Garten ein.

Die Umrisse des Hauses erhoben sich in absoluter Stille, dunkler und einsamer denn je. Im Gestrüpp sah ich Marinas Fahrrad wie ein gerissenes Tier daliegen. Die Kette war verrostet, die Lenkstange von Feuchtigkeit zerfressen. Beim Anblick dieses Szenariums hatte ich den Eindruck, vor einer Ruine zu stehen, wo es nur noch altes Gerümpel und geisterhafte Echos gab.

»Marina?«, rief ich.