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Germán beendete sein Frühstück und bedankte sich herzlich bei mir, dass ich mir die Mühe gemacht habe, ihm seine Uhr zurückzubringen. So viel Liebenswürdigkeit verdoppelte mein Schuldgefühl.

»Nun, Óscar«, sagte er mit müder Stimme,»es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie haben irgendwann Lust, uns erneut zu besuchen.«

Ich verstand nicht, warum er mich beharrlich siezte. Etwas an ihm erzählte von anderen Zeiten, als diese Mähne noch geglänzt hatte und dieser jetzt alte Kasten ein Palast auf halbem Weg zwischen Sarriá und dem Himmel gewesen war. Er gab mir die Hand, verabschiedete sich und verschwand in diesem unergründlichen Labyrinth. Ich sah ihn mit leichtem Hinken durch den Flur davongehen. Seine Tochter blickte ihm nach, einen Anflug von Trauer verbergend.

»Germán ist nicht allzu gesund«, flüsterte sie.»Er wird schnell müde.«

Aber sofort verbannte sie die Melancholie aus ihrem Blick.

»Möchtest du noch irgendwas?«

»Es ist spät geworden«, sagte ich und kämpfte gegen die Versuchung an, unter irgendeinem Vorwand noch länger in ihrer Gesellschaft zu verweilen.»Ich glaube, ich geh jetzt am besten.«

Sie begleitete mich in den Garten hinaus. Das Morgenlicht hatte den Dunst vertrieben. Der beginnende Herbst färbte die Bäume kupfern. Wir gingen aufs Gittertor zu; Kafka schnurrte in der Sonne. Beim Tor angelangt, blieb das junge Mädchen auf dem Grundstück und ließ mich hinaus. Wir sahen uns schweigend an. Sie reichte mir die Hand, und ich ergriff sie. Unter der Samthaut konnte ich ihren Puls fühlen.

»Danke für alles«, sagte ich.»Und Verzeihung wegen…«

»Unwichtig.«

Ich zuckte die Schultern.

»Nun…«

Ich begann die Straße hinunterzugehen und spürte, wie die Magie dieses Hauses mit jedem Schritt mehr von mir abfiel. Auf einmal hörte ich ihre Stimme hinter mir:

»Óscar!«

Ich wandte mich um. Sie stand immer noch dort, hinter dem Gittertor. Zu ihren Füßen lag Kafka.

»Warum bist du neulich abends in unser Haus eingedrungen?«

Ich sah mich um, als erwartete ich, die Antwort aufs Pflaster geschrieben zu finden.

»Ich weiß es nicht«, gestand ich schließlich.»Das Geheimnis vermutlich…«

Sie lächelte rätselhaft.

»Du magst Geheimnisse?«

Ich nickte. Ich glaube, wenn sie mich gefragt hätte, ob ich Arsen mochte, hätte ich ebenfalls genickt.

»Hast du morgen was vor?«

Ich schüttelte den Kopf, weiterhin stumm. Gäbe es irgendetwas zu tun, so würde ich mir eine Ausrede einfallen lassen. Als Dieb war ich keinen Heller wert, aber im Lügen, muss ich gestehen, war ich schon immer ein Künstler gewesen.

»Dann erwarte ich dich hier, um neun«, sagte sie und verlor sich in den Schatten des Gartens.

»Warte!«

Mein Ruf hielt sie zurück.

»Du hast mir nicht gesagt, wie du heißt…«

»Marina… Bis morgen.«

Ich winkte ihr zu, aber sie war bereits verschwunden. Vergeblich wartete ich, dass sie sich nochmals zeigte. Die Sonne berührte die Himmelskuppel, und ich rechnete mir aus, dass es etwa zwölf Uhr mittags sein musste. Als ich sah, dass Marina nicht noch einmal kommen würde, ging ich ins Internat zurück. Die alten Haustüren im Viertel schienen mir vertraulich zuzulächeln. Ich konnte das Echo meiner Schritte hören, doch ich hätte schwören können, eine Handbreit über dem Boden zu wandeln.

4

Ich glaube, in meinem ganzen Leben war ich nie so pünktlich gewesen. Die Stadt steckte noch im Pyjama, als ich über die Plaza de Sarriá ging. Während es zur Neun-Uhr-Messe läutete, flog bei meinem Vorübergehen ein Schwarm Tauben auf. Eine Sonne wie auf einem Kalenderbild entzündete die Spuren nächtlichen Nieselregens. Kafka war mich am Anfang der Straße, die zum Haus führte, abholen gekommen. Eine Gruppe Spatzen hielt sich auf einer Mauer in weisem Abstand. Der Kater beobachtete sie mit geübter professioneller Gleichgültigkeit.

»Morgen, Kafka. Haben wir heute schon einen Mord begangen?«

Er antwortete mit einem Schnurren und führte mich wie ein phlegmatischer Butler durch den Garten zum Brunnen. Auf dessen Rand erkannte ich Marinas Gestalt in einem elfenbeinfarbenen, schulterfreien Kleid. Mit einer Füllfeder schrieb sie in ein ledergebundenes Buch. Ihr Gesicht verriet große Konzentration, und sie nahm mich überhaupt nicht wahr. Ihr Geist schien in einer anderen Welt zu weilen, so dass ich sie einige Augenblicke verzückt betrachten konnte. Ich hatte keinen Zweifel, dass diese Schlüsselbeine von Leonardo da Vinci entworfen worden waren, eine andere Erklärung war nicht möglich. Eifersüchtig brach Kafka mit einem Miauen die Magie. Der Füller hielt brüsk inne, Marina schaute auf und mir in die Augen und klappte das Buch zu.

»Bereit?«

Sie führte mich mit unbekanntem Ziel und geheimnisvollem Lächeln durch die Straßen von Sarriá.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich nach einigen Minuten.

»Nur Geduld. Du wirst es schon sehen.«

Ich folgte ihr gehorsam, obwohl ich argwöhnte, einem im Moment noch unverständlichen Scherz aufzusitzen. Wir gingen zum Paseo de la Bonanova hinunter und von dort Richtung San Gervasio. Vor dem schwarzen Loch von Víctors Kneipe wärmte eine Gruppe junger Schnösel mit einem Bier in der Hand und hinter Sonnenbrillen verschanzt lässig die Sättel ihrer Vespas. Als wir vorübergingen, sahen sich einige von ihnen gemüßigt, ihre Ray Bans auf halbmast zu setzen, um Marina mit Röntgenblick zu erfassen. Blei sollt ihr fressen, dachte ich.

Dann bog Marina rechts in die Calle Dr. Roux ein. Wir gingen zwei Häuserblocks hinunter bis zu einem schmalen unasphaltierten Pfad, der bei der Nummer 112 begann. Noch immer stand das rätselhafte Lächeln auf ihren Lippen.

»Ist es hier?«, fragte ich gespannt.

Der Pfad schien zu Ende zu sein. Marina ging aber einfach weiter zu einem Weg, der zu einem zypressengesäumten Säulengang hinaufführte. Auf der anderen Seite lag unter bläulichen Schatten ein verhexter Garten voller Grabsteine, Kreuze und moosiger Mausoleen.

Der alte Friedhof von Sarriá ist einer der verstecktesten Winkel Barcelonas. Sucht man ihn auf einem Stadtplan, dann findet man ihn nicht. Fragt man Anwohner oder Taxifahrer, wie man hingelangt, dann wissen sie es ziemlich sicher nicht, obwohl alle schon von ihm gehört haben. Und wenn jemand es vielleicht wagt, ihn auf eigene Faust zu suchen, verirrt er sich höchstwahrscheinlich. Die wenigen, die das Geheimnis seiner Lage kennen, vermuten, dass dieser alte Friedhof eigentlich nichts weiter ist als eine Insel aus der Vergangenheit, die nach Lust und Laune auftaucht und wieder verschwindet.

Hierher führte mich Marina an diesem Septembersonntag, um mir ein Geheimnis zu offenbaren, das mich beinahe mit derselben Spannung erfüllte, wie ihre ganze Person es tat. Gemäß ihren Anweisungen setzten wir uns in eine etwas erhöhte verborgene Ecke im nördlichen Teil des Geländes. Ruhig saßen wir da und betrachteten Gräber und verwelkte Blumen. Marina sagte keinen Ton, und nach einigen Minuten wurde ich langsam ungeduldig. Das einzige Geheimnis, das sich mir stellte, war, was zum Teufel wir hier zu suchen hatten.

»Ziemlich tote Hose hier«, meinte ich ironisch.

»Geduld ist die Mutter der Wissenschaft«, entgegnete sie.

»Und die Patin des Wahnsinns. Hier gibt es weniger als nichts.«

Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.

»Da täuschst du dich. Hier liegen die Erinnerungen Hunderter von Menschen, ihre Leben, Gefühle, Illusionen, ihre Abwesenheit, die Träume, die sie nie verwirklichen konnten, die Enttäuschungen, Irrtümer und unerwiderten Lieben, die ihnen das Leben vergiftet haben. All das ist hier – auf immer festgehalten.«