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»Das Gebiet der Menschen ist das Leben«, sagte der Arzt.»Der Tod gehört nicht uns.«

Ich fühlte mich entsetzlich müde. Am liebsten hätte ich mich ergeben, aber ich wusste nicht, wem oder was. Ich drehte mich um und wollte gehen. Bevor ich den Raum verließ, rief mich Shelley noch einmal zurück.

»Du warst dort, nicht wahr?«, fragte er.

Ich nickte.

»María ist in Frieden gestorben, Doktor.«

Ich sah die Tränen in seinen Augen glitzern. Er reichte mir die Hand.

»Danke.«

Ich sah ihn nie wieder.

Am Ende dieser Woche kam Marina wieder zu Bewusstsein und konnte die Intensivstation verlassen. Man brachte sie in einem Zimmer im zweiten Stock unter, das nach Horta hinausging. Dort lag sie allein. Sie schrieb nicht mehr in ihr Buch und konnte sich kaum vorbeugen, um ihre fast fertige Kathedrale am Fenster zu sehen. Rojas bat um die Erlaubnis für eine letzte Reihe von Tests. Germán willigte ein. Er hatte noch immer Hoffnung. Als uns Rojas in seinem Büro die Ergebnisse bekanntgab, brach seine Stimme. Nach Monaten des Kampfs musste er sich ins Unvermeidliche schicken; und Germán stützte ihn und klopfte ihm auf die Schulter.

»Mehr kann ich nicht tun…, mehr kann ich nicht tun… Verzeihen Sie mir«, wimmerte Damián Rojas.

Zwei Tage später nahmen wir Marina mit uns zurück nach Sarriá. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Wir verabschiedeten uns von Doña Carmen, von Rojas und Lulú, die unaufhörlich weinte. Die kleine Valeria fragte mich, wohin wir mit meiner Freundin gingen, der berühmten Schriftstellerin, und ob sie ihr jetzt keine Geschichten mehr erzähle.

»Nach Hause. Wir bringen sie nach Hause.«

Ich verließ das Internat an einem Montag, ohne Vorankündigung und ohne jemandem zu sagen, wohin ich ging. Ich dachte nicht einmal daran, dass ich vermisst werden könnte. Das kümmerte mich nicht weiter. Mein Platz war bei Marina. Wir brachten sie in ihr Zimmer. Ihre inzwischen fertige Kathedrale leistete ihr beim Fenster Gesellschaft. Das war das beste Bauwerk, das ich je errichtet habe. Germán und ich wechselten uns ab, um sie vierundzwanzig Stunden am Tag zu bewachen. Rojas hatte gesagt, sie werde nicht leiden, sie werde langsam erlöschen wie eine Flamme im Wind.

Nie war mir Marina schöner erschienen als in diesen letzten Tagen in dem alten Haus in Sarriá. Ihr Haar war wieder gewachsen, glänzender als zuvor und mit silberweißen Strähnen. Selbst ihre Augen leuchteten stärker. Ich verließ ihr Zimmer kaum. Ich wollte jede Stunde, jede Minute genießen, die mir bei ihr noch blieb. Oft verbrachten wir Stunden in enger Umarmung, wort- und reglos. Eines Abends, an einem Donnerstag, küsste sie mich auf die Lippen und raunte mir ins Ohr, sie liebe mich und werde mich immer lieben, was auch geschehen möge.

Am nächsten Morgen starb sie, in der Frühe und in aller Stille, wie Rojas vorhergesagt hatte. Im ersten Tageslicht drückte sie mir kräftig die Hand, lächelte ihrem Vater zu, und die Flamme ihrer Augen verglomm für immer.

Im alten Tucker machten wir uns auf die letzte Fahrt mit Marina. Germán fuhr schweigend zum Strand, wie wir es Monate zuvor getan hatten. Der Tag war so strahlend, dass es den Eindruck machte, das von ihr so geliebte Meer habe sich festlich gekleidet, um sie zu empfangen. Wir parkten unter den Bäumen und gingen an den Strand hinunter, um ihre Asche zu verstreuen.

Vor der Rückkehr gestand mir Germán, der innerlich zerbrochen war, er fühle sich nicht in der Lage, nach Barcelona zu fahren. Wir ließen den Tucker zwischen den Pinien stehen. Einige Fischer, denen wir auf der Landstraße begegneten, erklärten sich bereit, uns zur Bahn zu bringen. Als wir auf dem Francia-Bahnhof ankamen, war es sieben Tage her, seit ich verschwunden war. Mir kam es vor wie sieben Jahre.

Auf dem Bahnsteig verabschiedete ich mich mit einer Umarmung von Germán. Heute weiß ich nicht, welchen Lauf sein Schicksal genommen hat. Wir wussten beide, dass wir uns nicht wieder würden in die Augen schauen können, ohne Marina darin zu erblicken. Ich sah ihn davongehen, ein Strich, der sich auf der Leinwand verlor. Kurz darauf erkannte mich ein Polizist in Zivil und fragte mich, ob ich Óscar Drai heiße.

EPILOG

Das Barcelona meiner Jugend gibt es nicht mehr. Seine Straßen und sein Licht sind für immer dahin und leben nur noch in der Erinnerung. Fünfzehn Jahre später kam ich in die Stadt zurück und suchte die Schauplätze wieder auf, die ich schon aus meinem Gedächtnis verbannt geglaubt hatte. Ich erfuhr, dass das alte Haus in Sarriá abgerissen worden war. Die Straßen darum herum gehörten jetzt zu einer Schnellstraße, auf der, wie es heißt, der Fortschritt fährt. Der alte Friedhof befindet sich vermutlich noch dort, im Nebel verloren. Ich setzte mich auf der Plaza de Sarriá auf die Bank, die ich so oft mit Marina geteilt hatte. In der Ferne erkannte ich die Umrisse meiner ehemaligen Schule, wagte mich ihr aber nicht zu nähern. Etwas sagte mir, wenn ich es täte, würde sich meine Jugend für immer verflüchtigen. Die Zeit macht uns nicht weiser, nur feiger.

Jahrelang bin ich geflohen, ohne zu wissen, wovor. Ich dachte, wenn ich weiter liefe als der Horizont, würden die Schatten der Vergangenheit von meinem Weg verschwinden. Ich dachte, mit genügend Abstand würden die Stimmen in meinem Geist für immer verstummen. Schließlich kehrte ich an jenen geheimen Mittelmeerstrand zurück. In der Ferne erhob sich die Einsiedelei Sant Elm, stets wachsam. Ich fand den alten Tucker meines Freundes Germán. Seltsamerweise stand er noch immer dort, an seinem letzten Ziel unter den Pinien.

Ich stieg zum Strand hinunter und setzte mich in den Sand, wo ich Jahre zuvor Marinas Asche verstreut hatte. Dasselbe Licht wie an jenem Tag erleuchtete den Himmel, und ich spürte ihre intensive Gegenwart. Da wurde mir klar, dass ich nicht weiter fliehen konnte noch wollte. Ich war nach Hause zurückgekehrt.

In ihren letzten Tagen hatte ich Marina versprochen, wenn sie es nicht mehr könnte, würde ich diese Geschichte zu Ende schreiben. Das Buch mit den weißen Seiten hat mich in diesen ganzen Jahren begleitet. Ihre Worte werden die meinen sein. Ich weiß nicht, ob ich meinem Versprechen gerecht werden kann. Manchmal zweifle ich an meinem Gedächtnis und frage mich, ob ich mich einzig an das werde erinnern können, was nie geschah.

Marina, du hast alle Antworten mitgenommen.

ÜBER CARLOS RUIZ ZAFÓN

Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 in Barcelona geboren und lebt heute in Los Angeles. Mit den großen Barcelona-Romanen ›Der Schatten des Windes‹ und ›Das Spiel des Engels‹ begeisterte er ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt; seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. ›Das Spiel des Engels‹ stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Nur kurze Zeit vor ›Der Schatten des Windes‹ schuf Carlos Ruiz Zafón den Roman ›Marina‹, der schon die gleiche Magie und erzählerische Kraft verströmt.

ÜBER DIESES BUCH

Carlos Ruiz Zafón hat drei phänomenale Weltbestseller geschaffen – ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹ und nun endlich auf Deutsch: ›Marina‹.

»Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Geheimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.«So beginnt Óscar Drai seine Erzählung. Der junge Held des Romans sehnt sich danach, am Leben Barcelonas teilzuhaben, und streift am liebsten durch die verwunschenen Villenviertel der Stadt. Eines Tages trifft er auf ein faszinierendes Mädchen. Sie heißt Marina, und sie wird sein Leben für immer verändern. Gemeinsam werden die beiden in das düstere Geheimnis um den ehemals reichsten Mann Barcelonas gesogen. Schmerz und Trauer, Wut und Größenwahn reißen sie mit sich, eine höllische Verbindung von vernichtender Kraft. Aber auch Marina umgibt ein Geheimnis. Als Óscar schließlich dahinterkommt, ist es das jähe Ende seiner Jugend.