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In der Nacht träumte ich, ich sei in einem riesigen Kaleidoskop gefangen. Es wurde von einem teuflischen Wesen gedreht, von dem ich durch die Linse nur sein großes Auge erspähte. Die Welt zerfiel in Labyrinthe optischer Illusionen, die mich umschwebten. Insekten. Schwarze Schmetterlinge. Plötzlich erwachte ich mit dem Gefühl, in meinen Adern fließe siedend heißer Kaffee. Dieser fiebrige Zustand verließ mich den ganzen Tag nicht. Die montäglichen Unterrichtsstunden rauschten vorbei wie Züge, die an meinem Bahnhof nicht hielten. JF bemerkte es sogleich.

»Eigentlich schwebst du ja immer in den Wolken, aber heute schwirrst du ins All ab. Bist du krank?«

Ich beruhigte ihn mit abwesender Miene. Die über der Wandtafel hängende Uhr zeigte halb vier. Erst in knapp zwei Stunden war Schulschluss. Eine Ewigkeit. Draußen kratzte der Regen an den Fenstern.

Als die Glocke läutete, sauste ich, anstatt mich mit JF auf unseren üblichen Spaziergang in der wirklichen Welt zu machen, durch die endlosen Gänge zum Ausgang. Die Gärten und Brunnen draußen lagen blass unter einer Gewitterdecke. Ich hatte keinen Schirm bei mir, nicht einmal eine Kapuze. Der Himmel glich einem bleiernen Grabstein, die Straßenlaternen brannten wie Streichhölzer.

Ich rannte los, wich Pfützen und überlaufenden Abflüssen aus und gelangte endlich auf die Straße hinaus. Sie war überflutet von Regenbächen, als blute eine Ader aus. Durchnässt bis auf die Knochen, lief ich durch die engen, stillen Straßen, an Gullys vorbei, die mich anbrüllten. Die Stadt schien in einem schwarzen Ozean untergehen zu wollen. In zehn Minuten stand ich vor dem Gittertor von Marinas und Germáns Haus. Längst waren meine Kleider und Schuhe vor Nässe aufgeweicht. Die Dämmerung war eine gräuliche Marmorwand am Horizont. Da glaubte ich hinter mir, in der Einmündung der Straße, ein Knacken zu hören und schnellte erschrocken herum. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, jemand sei mir gefolgt. Doch es war niemand da, nur der Regen peitschte die Pfützen auf dem Weg.

Ich schlüpfte durchs Tor. Die Helligkeit der Blitze leitete mich zum Haus. Die Cherubim im Brunnen hießen mich willkommen. Zitternd vor Kälte, erreichte ich den Hintereingang bei der Küche. Er war offen, und ich trat ein. Das Haus lag in vollkommener Dunkelheit. Ich erinnerte mich an das, was Germán über den fehlenden Strom gesagt hatte.

Erst jetzt kam ich auf den Gedanken, dass ich ja überhaupt nicht eingeladen war. Zum zweiten Mal drang ich eigenmächtig in dieses Haus ein. Ich wollte wieder gehen, doch draußen heulte der Sturm. Meine Hände schmerzten vor Kälte, so dass ich kaum die Fingerspitzen fühlte. Ich hustete wie ein Hund und spürte das Herz in den Schläfen hämmern. Eiskalt klebten mir die Kleider am Körper. Ein Königreich für ein Badetuch, dachte ich.

»Marina?«, rief ich.

Das Echo meiner Stimme verlor sich im Haus. Ich nahm die Decke der Schatten um mich herum wahr. Nur im Licht der durch die Fenster hereinzuckenden Blitze erhaschte ich flüchtige Eindrücke.

»Marina?«, rief ich erneut.»Ich bin’s, Óscar…«

Zögernd drang ich ins Haus ein. Meine nassen Schuhe quatschten beim Gehen. Als ich in den Salon kam, wo wir am Vortag gegessen hatten, blieb ich stehen. Der Tisch war leer, die Stühle verlassen.

»Marina? Germán?«

Keine Antwort. Im Halbdunkel erkannte ich auf einer Konsole einen Kerzenleuchter und eine Schachtel Streichhölzer. Erst beim fünften Versuch schafften es meine verschrumpelten, gefühllosen Finger, die Kerze anzuzünden.

Ich hob das flackernde Licht in die Höhe. Eine gespenstische Helligkeit erfüllte den Raum. Ich glitt auf den Flur hinaus, durch den ich tags zuvor Marina und ihren Vater hatte verschwinden sehen.

Der Gang führte zu einem weiteren großen Salon, in dem ebenfalls ein Lüster hing. Seine Glasperlen leuchteten im Dunkeln wie gläserne Karussells. Das Haus war von schrägen Schatten bevölkert, die der Sturm von außen durch die Scheiben warf. Unter weißen Laken ruhten alte Möbel und Sessel. Eine Marmortreppe führte in den ersten Stock hinauf. Mit dem Gefühl eines Eindringlings ging ich auf sie zu. Oben blitzten zwei gelbe Augen. Ich hörte ein Miauen. Kafka. Ich atmete auf. Eine Sekunde später zog sich der Kater in die Schatten zurück. Ich blieb stehen und schaute mich um. Meine Schritte hatten im Staub Spuren hinterlassen.

»Ist jemand da?«, rief ich erneut, bekam aber keine Antwort.

Ich stellte mir diesen großen Salon Jahrzehnte früher vor, in prachtvoller Aufmachung. Ein Orchester und Dutzende tanzender Paare. Jetzt sah er aus wie der Salon eines untergegangenen Luxusdampfers. Die Wände waren mit Ölgemälden bedeckt, alles Porträts einer Frau. Ich erkannte sie. Es war dieselbe wie die auf dem Bild, das ich am ersten Abend gesehen hatte. Die Perfektion und Magie des Pinselstrichs und die Leuchtkraft dieser Gemälde waren fast übernatürlich. Ich fragte mich, wer der Künstler sein mochte. Selbst mir war klar, dass alle von ein und derselben Hand stammten. Von überallher schien mich die Dame zu überwachen. Unschwer erkannte man die unglaubliche Ähnlichkeit dieser Frau mit Marina. Dieselben Lippen auf blasser, fast durchscheinender Haut. Dieselbe schlanke, fragile Gestalt wie bei einer Porzellanfigur. Dieselben aschfarbenen Augen, traurig und unergründlich. Ich spürte, wie mir etwas um den Knöchel strich; zu meinen Füßen schnurrte Kafka. Ich bückte mich und streichelte sein silbriges Fell.

»Wo ist denn Frauchen, na?«

Die Antwort war ein melancholisches Miauen. Hier war kein Mensch. Ich hörte den Regen aufs Dach prasseln. Tausende Wasserspinnen, die auf dem Dachboden krabbelten. Wie es schien, waren Marina und Germán aus einem nicht zu erratenden Grund weggegangen. Jedenfalls ging mich das nichts an. Ich streichelte Kafka und beschloss, mich aus dem Staub zu machen, ehe sie zurückkämen.

»Einer von uns beiden ist hier überflüssig«, flüsterte ich ihm zu.»Ich.«

Plötzlich sträubten sich seine Haare zu Stacheln. Ich spürte, wie sich unter meiner Hand seine Muskeln spannten wie Drahtseile. Er gab ein panisches Miauen von sich. Ich fragte mich, was das Tier so erschreckt haben mochte, als ich es ebenfalls wahrnahm. Diesen Gestank. Den Gestank nach tierischer Fäulnis aus dem Gewächshaus. Ich verspürte Übelkeit.

Ich schaute auf. Ein Regenvorhang verschleierte das große Fenster des Salons. Auf der anderen Seite erkannte ich undeutlich die Silhouetten der Brunnenengel. Instinktiv war mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Zwischen den Statuen befand sich noch eine weitere Gestalt. Ich stand auf und ging langsam zum Fenster. Eine der Silhouetten wandte sich mir zu. Ich erstarrte. Ich konnte ihre Züge nicht erkennen, nur gerade die dunkle, in einen Umhang gehüllte Gestalt. Ich war überzeugt, dass mich dieser Unbekannte beobachtete. Und er wusste, dass auch ich ihn gesehen hatte. Einen endlosen Moment lang blieb ich reglos stehen. Sekunden später zog sich die Gestalt in die Schatten zurück. Als das Licht eines Blitzes über dem Garten explodierte, war der Fremde nicht mehr dort. Erst nach einer Weile merkte ich, dass mit ihm auch der Gestank verschwunden war.

Mir fiel nichts anderes ein, als mich hinzusetzen und auf Marinas und Germáns Rückkehr zu warten. Die Vorstellung, ins Freie hinauszugehen, war nicht sehr verführerisch, und das Gewitter war noch das geringste Übel. Ich ließ mich in einen riesigen Sessel fallen. Allmählich schlief ich über dem Widerhall des Regens und der schwachen Helligkeit im Salon ein. Dann hörte ich auf einmal, wie das Hauptportal aufgeschlossen wurde und Schritte sich im Haus bewegten. Ich erwachte aus meiner Trance, und mir blieb fast das Herz stehen. Durch den Gang näherten sich Stimmen. Eine Kerze. Kafka lief auf das Licht zu, als Germán und seine Tochter den Salon betraten. Marina warf mir einen eisigen Blick zu.

»Was suchst du hier, Óscar?«

Ich stammelte irgendetwas Unzusammenhängendes. Germán lächelte mir freundlich zu und betrachtete mich neugierig.