»Nach Indien reisen?« Sein Vater stand kurz vor einem Schlaganfall. »Du wirst Medizin studieren, junger Mann! Du bist an meinem alten College angenommen worden, zum Teufel, und du gehst nirgendwo anders hin!«
»Aber ich glaube nicht, daß ich schon soweit bin …«
»Pah! Ich kenne dich, du Schlawiner. Hast Angst, daß du dich tatsächlich auf den Hosenboden setzen und studieren mußt. Angst davor, hart zu arbeiten. Wird dir gut tun, so ein bißchen harte Arbeit. Du gehst an die medizinische Fakultät, mein Junge. Und damit basta.«
Also ging Tony an die medizinische Fakultät. Sein Vater hatte recht gehabt; er war von banger Erwartung erfüllt. Sobald er jedoch dort war, stellte Tony fest, daß es noch lustiger zuging als an der Universität. Mogelbücher und Testkassetten gab es beinahe schon offiziell zu kaufen. Aber nach den ersten paar Monaten merkte Tony, daß er eine echte Faszination für das Studium des menschlichen Körpers entwickelte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß ihm das Lernen Spaß machte. Er begann tatsächlich, hart zu arbeiten und zu studieren. Er wollte hervorragende Leistungen bringen.
Und immer war da der Mars — weit hinten in seinen Gedanken, knapp jenseits des Horizonts seines Daseins. Manchmal vergaß er ihn monatelang, ja sogar jahrelang, und dann war in einer Nachrichtensendung auf einmal wieder eine Rakete zu sehen, die in einem tosenden Meer aus Feuer und Dampf abhob, um ein Roboter-Landefahrzeug zu dem roten Planeten zu transportieren. Oder ein Gastredner sprach über die medizinischen Probleme in der Mikroschwerkraftumgebung einer Raumstation und erwähnte beiläufig, daß man bei einer Mission zum Mars mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert wäre. Oder der mittlerweile ergraute, aber immer noch vor jugendlichem Eifer sprühende Alberto Brumado moderierte eine Fernseh-Sondersendung über den Ursprung des Lebens auf der Erde und fragte sehnsüchtig, ob es möglich wäre, daß auch auf dem Mars Leben entstanden sei.
Sein Vater war schockiert und erzürnt, als Tony es ablehnte, die Familienpraxis zu übernehmen.
Mit rotem Gesicht und außer sich vor Zorn, beleibt von den Jahren und dem zu guten Leben, schrie sein Vater: »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, diese Praxis aufzubauen! Du mußt sie weiterführen!«
Tony lächelte kühl und versuchte, die schreckliche Angst zu verbergen, die der Zorn seines Vaters stets in ihm auslöste. »Vater, es hilft alles nichts. Ich werde nicht in deine geheiligten Fußstapfen treten.«
»Was ist denn los mit dir?« brüllte sein Vater. »Kannst kein Blut sehen? Ist es das? Operationen machen dir eine Heidenangst, hm? Verdammter flennender Feigling!«
Tony wich nicht zurück.
»Bei Gott, in deinem Alter habe ich Verwundete auf einem Lazarettschiff mitten in den Winterstürmen des Südatlantik zusammengeflickt.«
»Du hast uns oft von deinen ruhmreichen Heldentaten im Falklandkrieg erzählt, Vater.«
»Du bist ein Feigling! Ein verdammter zitternder, bibbernder kleiner Feigling!« Der alte Mann wandte sich an seine Frau. »Du hast einen Feigling als Sohn großgezogen.«
Tony spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. »Hör auf, sie zu schikanieren!«
Sein Vater starrte ihn einen langen Augenblick an, dann stürmte er mit einem erbitterten Grunzen hinaus. Tony drehte sich zu seiner Mutter um, die stumm und geduldig dasaß. Sie hörten, wie sich die Haustür öffnete und dann ins Schloß fiel.
»Du glaubst doch nicht, daß ich ein Feigling bin, oder?« fragte Tony seine Mama.
»Natürlich nicht, mein Schatz.«
Zwei Tage später bewarb sich Tony für einen Posten im Raumfahrtprogramm der britischen Regierung. Innerhalb von vierzehn Tagen wurde er benachrichtigt, daß er vorläufig angenommen worden sei; er solle sich im Trainingszentrum melden, um dort seine Tests und Untersuchungen zu absolvieren. Sein Vater war nicht zu Hause, als der Brief eintraf; es war niemand im Haus, nur Tony und seine Mutter.
»Sie brauchen Ärzte«, erklärte er ihr. Sein Stolz war immer noch verletzt. »Es kann sehr gut sein, daß ich ins Mars-Trainingsteam komme, wenn England in das Programm einsteigt.«
Er hatte erwartet, daß sie entsetzt in Tränen ausbrechen und ihn bitten würde, es sich noch einmal zu überlegen. Statt dessen küßte ihn seine Mutter lächelnd auf die Stirn und erklärte ihm, er solle tun, was immer er wolle.
Am Ende wurde Tony vom Marsprojekt angenommen, ein Fremder kaufte die lukrative Praxis, als sein Vater in den Ruhestand ging, und seine Mutter schleppte den alten Mann nach Nassau, wo er in ihrem ersten Jahr in der Sonne einen Schlaganfall erlitt und zu einem hilflosen Krüppel wurde, der vollkommen auf die liebevolle Fürsorge seiner lange vernachlässigten Frau angewiesen war.
Tony genoß es, beim Marsprojekt dabeizusein. Die meisten anderen Trainingsteilnehmer waren entweder Astronauten oder Wissenschaftler, langweilige Techniker oder Forscher mit so eng umrissenen Spezialgebieten, daß sie so gut wie nichts von der größeren Welt der schönen Künste und der Gesellschaft wußten. Tony amüsierte sich bestens. Er war stets das kultivierte Zentrum des Interesses, und alle fühlten sich zu ihm hingezogen. Während andere vor Angst, beim Auswahlprozeß durchzufallen, fast hysterisch wurden, zweifelte Tony nie daran, daß er ins Marsteam kommen würde. Falls ihm der Gedanke angst machte, Millionen von Kilometern durch den Raum zu einer leeren, höchst ungastlichen Welt zu reisen, so behielt er solche unguten Gefühle für sich. Nur in seinen Träumen suchten ihn derartige Schrecknisse heim, und zwar immer in Gestalt seines Vaters, der wie ein furchtbarer, nimmersatter Oger über ihm aufragte, während seine Mutter hilflos schluchzte.
Während seiner wachen Stunden unternahm Tony nur einen Schritt, den er später für einen Fehler hielt. Er half Joanna, Hoffmann loszuwerden und den Navajo ins Marsteam zu holen. Ein Schnitzer, dachte Tony im Rückblick. Der Navajo ist ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Selbst Joanna interessiert sich für ihn. Joanna ganz besonders.
SOL 24
MITTAG
Leise vor sich hinsummend, überprüfte Aleksander Mironow Jamies Tornistergerät. Die Luftschleuse des Rovers war voll, obwohl nur sie beide sich darin befanden: Mironow in seinem feuerwehrroten Anzug, Jamie in seinem himmelblauen, samt grauem Ersatzhelm für das Original mit der Meteoritenschramme.
Mironows Visier war hochgeklappt, und als der Russe in sein Blickfeld zurückgestapft kam, sah Jamie, daß er lächelte. Mironows Gesicht wirkte klobig, fast zusammengepreßt in seinem Helm, als steckte es in einem Behälter, der eine halbe Nummer zu klein war. Es war ein breitwangiges, leicht gerötetes Gesicht mit einer Stupsnase und einigen Sommersprossen, blaßblauen Augen und so blonden Brauen, daß sie kaum zu sehen waren.
»Handschuhe?« fragte Mironow.
»Hier an meinem Gürtel, Alex.« Jamie zog sie an. Die Handschuhe waren das fortschrittlichste Stück Technik der gesamten Missionsausrüstung: so dünn und biegsam, daß der Träger die Finger mühelos darin bewegen konnte und ein Gefühl für alles behielt, was er anfaßte, aber auch so zäh, daß sie die Hände vor dem Beinahe-Vakuum der Marsatmosphäre schützten.
»Visier runter«, befahl Mironow. Erst nachdem sie beide ihre Helme verriegelt hatten, drehte er sich zu den Pumpen um und startete sie.
»Sie sehen müde aus«, sagte der Kosmonaut über Anzugfunk.
Überrascht sagte Jamie zu dem goldgetönten Visier: »Mir geht es gut.«
»Sie waren gestern vier Stunden draußen, und vergangene Nacht sind Sie sehr lange aufgeblieben. Sie waren den ganzen Vormittag draußen, und jetzt gehen Sie schon wieder hinaus.«
Die Pumpen hörten auf zu arbeiten. Das Anzeigelämpchen wurde rot. Mironow stieß die Luke auf.
»Wir haben hier nur drei Tage«, erwiderte Jamie, als sie durch die Luke traten und die kurze Leiter zu dem unebenen, geschwärzten Boden hinunterstiegen.