»Ich dachte, auf dem Boden dieser Spalte sei vielleicht eine freiliegende Uranader«, sagte Naguib als Erklärung und Entschuldigung zugleich. »Mein Szintillationsdetektor hat hohe Strahlungswerte registriert.«
»Uran?« Patel griff die Idee auf. »Wenn es uns gelänge, das Mengenverhältnis von Uran und Blei zu bestimmen, dann könnten wie das Alter des Lavafeldes mit großer Genauigkeit feststellen.«
Jamie sagte: »Wir haben nirgends irgendwelche brauchbaren Mengen radioaktiver Stoffe gefunden.«
»Irgend etwas ist dort unten, auf dem Boden der Runse«, sagte Naguib.
»Dann müssen wir morgen noch einmal hin und ein paar Proben nehmen«, sagte Jamie.
Mironow zog seine fast unsichtbaren Augenbrauen hoch. »Noch einmal hin?«
»Mit der Winde, Alex«, sagte Jamie. »Und wir können sogar die ausziehbare Leiter über die Spalte legen, über die wir springen mußten.«
Der Russe sagte nichts, sondern sah Patel über den Tisch hinweg an.
»Dann also abgemacht«, schloß Jamie. »Rava und ich gehen morgen noch einmal hin und holen Proben vom Boden der Runse.«
Mironow schob sich abrupt hinter dem Tisch hervor und machte sich auf den Weg nach vorn ins Cockpit. Sie starrten auf seinen Rücken, als er sich entfernte.
Patel zwinkerte mehrmals und führte das Gespräch dann weiter, als ob nichts passiert wäre. »Das Mengenverhältnis von Blei und Uran könnte uns eine absolute Zeitangabe für dieses spezielle Segment des Lavastroms liefern …«
»Entschuldigt mich.« Jamie schob sich aus der Bank und stand auf. Patel unterhielt sich weiter mit Naguib.
Mironow saß auf dem Fahrersitz. Seine Finger huschten über die Kontrolltafel. Er checkte alle Systeme des Rovers. Jamie glitt auf den Sitz neben ihm.
»Was ist los, Alex?«
Der Russe holte tief Luft. Hinter sich hörten sie Patel weiterpalavern.
»Ihr Kollege hätte Naguib dort draußen sterben lassen, wenn es nach ihm gegangen wäre.«
»Was? Rava?«
»Ich habe ihm befohlen, die Winde zu holen. Er hat sie bis zur Spalte gebracht, wollte aber nicht drüberspringen. Er hat das Gerät über die Spalte geworfen und sich dann auf den Rückweg zum Rover gemacht.«
Jamie verstummte und verdaute die Information. Rava muß in Panik geraten sein, sagte er sich. Und Alex ist höllisch sauer auf ihn.
»Aber hinterher ist er doch gesprungen«, sagte Jamie endlich. »Er ist herübergekommen und hat uns geholfen.«
»Nachdem ich ihm gedroht hatte, ich würde ihm jeden Knochen im Leib brechen«, knurrte Mironow.
»Ich mußte ihn zwingen, Naguib etwas von seiner Luft abzugeben.«
»Er muß verdammt viel Angst gehabt haben«, sagte Jamie.
»Auf ihn ist kein Verlaß. Nicht in einem Notfall. Ich werde nicht zulassen, daß Sie allein mit ihm hinausgehen.«
Jamie zuckte die Achseln. »Dann werden Sie mitkommen müssen, Alex. Wenn in dieser Talrinne wirklich eine Ader mit Uran ist — oder irgendeinem anderen radioaktiven Stoff —, dann ist das für uns von entscheidender Bedeutung.«
Der Russe nickte kurz. »Ich komme mit. Naguib kann im Rover bleiben und Funkkontakt halten.«
»Okay. Und jetzt beruhigen Sie sich. Kann sein, daß Patel in Panik geraten ist, aber es nützt uns nichts, sauer zu sein.«
»Ja. Ich weiß. Aber ich würde ihm trotzdem am liebsten den Hals umdrehen.«
Jamie versuchte zu lachen. Er klopfte Mironow auf die Schulter. »Einen Groll zu hegen, kann genausoviel Schaden anrichten, wie in Panik zu geraten. Versuchen Sie, nüchtern und sachlich zu bleiben, Alex.«
Der Russe grunzte.
Jamie stand auf und ging zum Tisch zurück, wo Naguib und Patel sich unterhielten.
»Okay«, sagte Jamie. »Morgen früh gehen wir noch mal zu der Runse — Rava, Alex und ich.«
»Und was ist mit mir?« fragte Naguib, als Jamie auf der anderen Seite des schmalen Tisches Platz nahm.
»Sie bleiben drinnen und erholen sich. Sie können die Proben analysieren, die wir heute gesammelt haben.«
»Und wer hat Ihnen die Leitung übertragen?« fauchte Patel. »Wer hat Sie zum Kapitän dieses Teams gewählt?«
Jamie blinzelte überrascht. »Es scheint mir einfach die logische Vorgehensweise zu sein. Abdul wird sich morgen bestimmt kaum rühren können und Schmerzen haben. Also bleiben nur noch Sie und ich übrig, Rava. Und Alex.«
Patels Nasenflügel blähten sich. »Ja. Natürlich. Sie und ich und unser Kosmonautenaufseher. Und am Tag darauf kehren wir zur Kuppel zurück«, sagte er zornig. »Und damit sind unsere drei Tage hier um.«
Jamie lehnte sich auf der Bank zurück und starrte Patel über den unordentlichen Eßtisch hinweg an. Er war erstaunt über sich selbst, weil er von seinem Kollegen Anerkennung erwartet hatte. Oder wenigstens Höflichkeit.
SOL 34
MORGEN
Jamie erwachte aus dem Traum. Eine ganze Weile lag er wie tot auf seiner Liege und starrte zur Kunststoffwölbung der Kuppel hinauf, die sich gerade mit dem Licht des neuen morgens aufzuhellen begann. Zuerst glaubte er, wieder im Rover zu sein, aber dann erinnerte er sich, daß sie vor einer Woche von der Exkursion zum Pavonis Mons zurückgekehrt waren. Er war im Schlaf von einem seltsamen, beunruhigenden Traum heimgesucht worden. Der Traum hatte ihm nicht direkt angst gemacht, aber er war verwirrend gewesen.
Jamie setzte sich auf. Stell dir vor, du hast geträumt, du wärst wieder in der Schule. Kopfschüttelnd rief er sich ins Gedächtnis, daß ihm das mit Sicherheit erspart bleiben würde. Er war auf dem Mars. Und dies war der Tag, an dem sie zum Canyon aufbrechen würden.
Das erste rosafarbene Licht der Dämmerung erfüllte die Kuppel, als Jamie sich abschrubbte, rasierte und sich dann ein Frühstück aus warmem Haferschrot, dampfendem Kaffee und der unvermeidlichen Vitaminkapsel einverleibte. Er war allein in der Messe, bis die anderen eintrudelten, um den Tag zu beginnen.
Auf dem Weg zu den Spinden, in denen die Raumanzüge hingen, sagte er ein paar Leuten kurz guten Morgen. Die Kuppel wirkte jetzt anders auf ihn. Sie war nicht mehr derselbe Ort wie zum Zeitpunkt ihrer Landung. Es lag nicht nur daran, daß ein Dutzend Männer und Frauen hier dreiunddreißig Tage lang gelebt und gearbeitet hatten. Vor fast fünf Wochen war ihm die Kuppel seltsam und furchteinflößend erschienen, wie ein neuer, noch nicht erprobter Mutterleib aus Kunststoff und kaltem Metall. Jetzt war sie ein Zuhause, sicher und warm, und der Kaffeeduft wehte bis zu den Spinden herüber. Fast fünf Wochen Arbeiten und Planen, Diskutieren und Scherzen, Essen und Schlafen hatten der Kuppel eine ausgeprägte menschliche Aura verliehen. Der Boden war von den Stiefelsohlen ihrer Bewohner abgeschabt. Jamie spürte die Emotionen, von denen die Luft durchtränkt war. Das ist nicht die sterile Kuppel voller Ausrüstungsgegenstände, die sie einmal gewesen ist. Nicht mehr. Dieser Ort ist jetzt von unserem Geist erfüllt, dachte er.
Und heute lassen wir das alles hinter uns, um zum Canyon zu fahren. Kein Wunder, daß ich einen Angsttraum hatte.
Er kam an dem kleinen Treibhausbereich vorbei, wo Monique Bonnet unter den strahlend hellen Lampen neben den Beeten kniete und wie eine liebevolle Mutter die Pflanzen pflegte. Obwohl nun die Morgensonne durch die gekrümmte Kuppelwand hereinfiel, ließen sie die UV-Lampen auch tagsüber brennen. Der transparente Kunststoff der Kuppel hielt fast alle Infrarotanteile des Sonnenlichts sowie die gesamte Ultraviolettstrahlung draußen.
»Na, wie geht’s dem Gemüse?« fragte Jamie. Monique blickte von den großen Tabletts auf und wischte sich einen roten Fleck von der Wange. »Sehr gut. Sehen Sie?« Sie zeigte auf die kleinen grünen Schößlinge, die aus dem rosafarbenen Sandboden ragten. »Bevor wir zur Erde zurückkehren, werde ich euch noch einen salade verte machen können.«
»Geben Sie ihnen immer noch Perrier?«