Keiner von ihnen rührte sich. Keiner sagte ein Wort. Jamie spürte, wie die Kälte der Marsnacht durch die Plastikkuppel des Cockpits hereinkroch. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, sahen sie allmählich ein paar der hellsten Sterne, deren Licht durch den gewölbten, getönten Kunststoff hereinfiel.
»Das muß die Erde sein«, sagte Ilona mit ihrer rauchigen Stimme.
»Nein. Das ist der Sirius«, korrigierte Connors. »Den Ephemeriden zufolge ist die Erde schon unter dem Horizont.«
»Wir können sie gar nicht sehen?« fragte Joanna.
»Erst, wenn sie zum Morgenstern wird. Und bis dahin sind wir schon wieder auf dem Heimweg.«
Jamie starrte in den dunklen Nachthimmel hinauf. Er erblickte nur ein paar vereinzelte Sterne. Der Himmel sah einsam und verlassen aus.
Connors langte nach oben und zog den Thermovorhang über die Plastikkanzel. »Würden Sie mich bitte mal durchlassen?« sagte er dann zu den Frauen. »Ich brauche ein Aspirin.«
»Kopfschmerzen?« fragte Ilona.
»Ja. Zu lange gefahren. Ein Flugzeug zu fliegen ist viel einfacher.«
»Ich auch«, sagte Ilona. »Ich begleite Sie zur Aspirinflasche.«
Jamie fragte sich, ob Ilona sich an den Astronauten heranmachen würde. Nicht hier, dachte er. Es ist zu eng, und es steht zuviel auf dem Spiel. Dann merkte er, daß seine Schläfen ebenfalls pochten. Es war ein anstrengender Tag gewesen; sie waren pausenlos gefahren.
Als sie mit dem Abendessen fertig waren, schien es ihnen jedoch allen besser zu gehen. Connors unterhielt sie mit Geschichten aus seiner Zeit als ›Tailend Charlie‹ bei der Kunstfliegertruppe der U.S. Air Force, den Thunderbirds.
»… und wir kommen Flügelspitze an Flügelspitze raus aus dem Looping, und da fliegt mir doch die gottverdammte Kanzel weg, peng!, einfach so. Wir werden mit vier Ge in die Sitze gepreßt und brettern fast mit Mach eins dahin, und plötzlich hocke ich in meinem Cockpit mitten in einem echten Hurrikan!«
Sein schwarzes Gesicht war quicklebendig, seine Hände verdrehten sich, um die Positionen der Flugzeuge zu demonstrieren. Die beiden Frauen hörten gebannt zu; ihre großen Augen waren auf Connors geheftet. Jamie lauschte mit halbem Ohr und ließ seine Gedanken zu der Aufgabe wandern, mit der sie morgen früh konfrontiert sein würden: einen Abhang auf dem Erdrutsch zu finden, auf dem sie sicher zum Grund des Canyons hinunterfahren konnten. Würde der Boden fest genug sein, sie zu tragen? Würde er zu steinig für die Räder des Rovers sein?
Lis Leute oben im Orbit hatten ihre letzten vier geologischen Sonden in die Schlucht geschossen. Die vollautomatischen Sonden hatten ihre atmosphärischen Hitzeschilde abgeworfen, als sie sich dem Boden näherten, und waren dann an geblähten weißen Fallschirmen hinuntergesunken, bis sie sanft aufgesetzt hatten. Nur eine von ihnen hatte ihren Anker mit den Meßinstrumenten tatsächlich in den Schutt des Erdrutsches gesenkt. Die anderen drei hatten ihn zwischen ein paar Dutzend Metern und einem vollen Kilometer verfehlt.
Die Meßinstrumente dieser einen Sonde meldeten, daß der Erdrutsch fest genug für den Rover war. Aber sie maßen nur eine Stelle auf dem Erdrutsch. Was, wenn es Taschen mit lockerem, pulvrigem Erdreich gab? Wenn sie auf halbem Wege nach unten steckenblieben? So nah heranzukommen und dann umkehren zu müssen, würde unerträglich sein …
Er stellte fest, daß Connors seine Geschichte beendet hatte und ins Cockpit zurückgegangen war, um sich vor dem Schlafengehen noch ein letztes Mal mit der Kuppel in Verbindung zu setzen. Ilona war mit ihm gegangen. Sie saß auf dem Sitz, den Jamie fast den ganzen Tag mit Beschlag belegt hatte.
Joanna schob den Tisch in seine Nische unter der unteren Liege gegenüber von Jamie.
»Alles in Ordnung?« fragte sie.
»Hmm? Ja, sicher. Es geht mir gut.«
»Ich hatte den Eindruck, daß du mit den Gedanken ganz woanders warst.«
»Ich habe nachgedacht.«
Sie lächelte. »Kann nichts schaden, wenn ein Wissenschaftler das hin und wieder mal tut.«
»Und du?« fragte er. »Wie geht es dir?«
»Ach … ich bin müde. Und ich mache mir Sorgen, glaube ich.«
»Sorgen? Weswegen?«
Sie setzte sich auf den Rand der ausgeklappten Liege neben Jamie und sagte mit ihrer Flüsterstimme: »Angenommen, wir kommen den ganzen weiten Weg hierher und gelangen auf den Grund des Canyons — und dort ist nichts? Kein Leben.«
Jamie zuckte die Achseln. »Deshalb kommen wir ja den ganzen weiten Weg hierher: um herauszufinden, ob es dort unten Leben gibt oder nicht.«
»Aber wenn wir nun keines finden?« In ihren Augen war etwas, das Jamie nicht ergründen konnte; es war nicht nur Angst, und es ging tiefer als das bloße Interesse einer Wissenschaftlerin am Ergebnis einer Untersuchung.
»Wenn da unten kein Leben zu finden ist«, antwortete Jamie langsam, »dann ist das an sich schon eine wichtige Entdeckung. Wir werden eben woanders suchen müssen.«
Joanna schüttelte den Kopf. »Wenn es unter den Nebelschleiern kein Leben gibt, was können wir dann vom Rest dieser eiskalten Wüste erwarten? Dann haben wir versagt, Jamie. Es wird keine weitere Expedition zum Mars geben.«
»He, laß dich nicht so runterziehen«, sagte er, streckte die Hand aus und faßte sie sanft an der Schulter. »Es ist doch nicht deine Schuld, wenn es auf dem Mars kein Leben gibt.«
»Aber dann sind wir umsonst von so weit her gekommen.«
»Nein. Nicht umsonst. Wir sind hier, um zu lernen, was der Mars uns zu lehren hat. Darum geht es bei der Wissenschaft, Joanna. Sie ist kein Spiel, bei dem man gewinnt oder verliert. Es geht darum, Wissen zu erwerben. Die negativen Ergebnisse sind genauso wichtig wie die positiven. Vielleicht sogar noch wichtiger.«
Ihr Gesichtsausdruck war beinahe elend.
»Wir sind hier, um die Wahrheit zu suchen«, sagte Jamie leise und eindringlich, »wir sollten uns nicht vor dem fürchten, was wir finden könnten, was es auch sein mag.«
Joanna antwortete nicht.
»Es gibt nichts, wovor wir Angst haben müßten«, wiederholte er. »Ganz gleich, was wir finden — oder nicht finden.«
Sie wandte sich ab, stand von der halb ausgeklappten Liege auf und hastete zum Waschraum. Jamie sah, daß sie weinte. Sie tat ihm leid. Und er war verwirrt.
Als er in dem abgedunkelten Rover auf dem Rücken lag und dem leisen Marswind draußen vor der metallenen Hülle lauschte, überlegte Jamie, weshalb Joanna sich solche Sorgen darüber machte, was sie in dem Canyon finden würden.
Sie ist Biologin, sagte er sich. Wenn sie Leben auf dem Mars findet, wird ihr Name in die Geschichtsbücher eingehen. Aber wenn nicht, wird sie sich immer fragen, ob sie es übersehen hat. Die ganze Welt wird sich fragen, ob es hier nicht doch Leben gibt und ob sie bloß nicht die richtigen Tests gemacht hat oder nicht an den richtigen Stellen gewesen ist.
Ich habe sie gezwungen, hierher zum Canyon zu kommen. Vielleicht hätten wir versuchen sollen, den Rand der Polarkappe zu erreichen. Dort gibt es jede Menge Wasserdampf, soviel steht fest. Aber wir sind viel zu weit von der Kappe entfernt gelandet. Das wird bis zu einer zweiten Mission warten müssen.
Connors schnarchte fünfzehn Zentimeter entfernt auf seiner Liege. Nur ein paar mehr Zentimeter über ihm war Joannas Liege. Jamie spürte, daß sie wach war, angespannt und besorgt und voller Angst.
Angst.
Jamie schloß im Dunkeln die Augen und rief sich seine erste Begegnung mit Joanna Brumado in Erinnerung. Damals hatte sie auch Angst gehabt.
Alle Trainingsteilnehmer hatten einen Überlebenstest auf dem Meer absolvieren müssen. »Es besteht ein kleines, aber begrenztes Risiko, daß Ihr Rückflug zur Erde mit einer Notlandung auf dem Meer enden wird«, sagte der grauhaarige alte Stabsbootsmann, den sie sich von einem Aquanautenteam der U.S. Navy ausgeliehen hatten. Obwohl ihr Rückflug dem Plan zufolge bei der Raumstation in der erdnahen Umlaufbahn enden sollte, konnte das Kommandomodul ihres Raumschiffes abgetrennt werden, falls irgend etwas schiefging, und wie die alte Apollokapsel in die Erdatmosphäre eintreten und im Meer runtergehen.