»Ja, ich verstehe.«
»Gut. Und halten Sie Verbindung mit Doktor Yang.«
»Mache ich. Bestimmt.«
Endlich besänftigt, wenn auch offenbar nicht zufrieden, beendete Li das Gespräch und verabschiedete sich. Reed starrte eine ganze Weile auf den leeren Bildschirm. Sein schattenhaftes Spiegelbild gab seinen Blick besorgt zurück.
»Sehr gut«, sagte Wosnesenski. »Das haben Sie gut gemacht.«
»Ja«, antwortete Reed, »aber ich bin nicht so sicher, daß ich das Richtige getan habe.«
»Wir brauchen hier keinen zweiten Arzt. Das würde nur Probleme verursachen. Sie haben gehört, was Li gesagt hat: Er denkt schon daran, die Mission abzubrechen.«
»Aber Mikhail Andrejewitsch, wenn wir doch noch krank werden …«
»Sie sind der Teamarzt.« Wosnesenski richtete einen Wurstfinger auf den Engländer. »Finden Sie heraus, was los ist, und bringen Sie es in Ordnung. Ein Doktor reicht.«
Er drehte sich um, schob die Falttür auf und beendete damit die Diskussion.
Reed, der allein in seinem Krankenrevier zurückblieb, trommelte mit den Fingern auf seine Schreibtischplatte. Etwas stimmte ganz eindeutig nicht, das wußte er. Trotz der ärztlichen Untersuchungen ist hier irgend etwas im Busch. Vor einer Woche hätte Wosnesenski garantiert nicht so reagiert. Der Mann ist so sicherheitsbewußt gewesen, daß es beinahe grotesk war. Jetzt will er nicht einmal in Erwägung ziehen, daß Yang herunterkommt, um mir zu helfen.
Sind wir alle mit irgend etwas infiziert? Werden wir alle wahnsinnig?
Wosnesenski ging mit finsterer Miene an der Kombüse vorbei zu seiner Privatkabine. Erst dann gestattete er sich ein müdes Seufzen und setzte sich auf seine Liege. Die Luftmatratze erwiderte sein Seufzen. Die Beine taten ihm weh. Er war gereizt, beinahe wütend.
Ärzte, grummelte er vor sich hin. Je mehr sie an einem herumdoktern, desto mehr finden sie auch. Wir haben uns irgendeine Krankheit geholt, eine Art Grippe, und deswegen denkt Li daran, die ganze Mission abzubrechen. Wahnsinn! Totaler Wahnsinn.
»Bist du krank?« fragte Jamie.
Ilona blickte mit trüben Augen zu ihm auf. »Ich weiß nicht, was das ist. Meine Arme und Beine tun scheußlich weh. Ich habe anscheinend überhaupt keine Kraft …«
»Was hat Tony gesagt?«
Sie errötete schuldbewußt. »Ich habe ihn nicht angerufen. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, daß er uns meinetwegen zur Kuppel zurückbeordert.«
Sie waren im Labormodul des Rovers. Ilona saß an der kleinen Säge mit den Diamantzähnen, mit der sie Steine zu Untersuchungszwecken in dünne Scheiben schnitten. Jamie stand neben ihr in dem schmalen Gang zwischen den Borden mit Ausrüstungsgegenständen und den Arbeitsplatten. Joanna saß etwa einen Meter entfernt am Mikroskop und beobachtete sie aufmerksam.
»Vielleicht solltest du dich doch lieber ausruhen«, sagte Jamie.
Ilona schüttelte störrisch den Kopf. »Nein. Das nützt nichts. Und wir haben einen Haufen Arbeit zu erledigen.«
Jamie hatte selber Kopfschmerzen. Er war der Meinung, daß Ilona sich hinlegen sollte, daß er Tony Reed anrufen und melden sollte, daß sie krank war. Aber er wußte, daß sie sich dagegen wehren würde, und er hatte nicht die Kraft, eine Auseinandersetzung vom Zaun zu brechen.
»Morgen früh ist bestimmt alles wieder in Ordnung«, sagte Ilona mit einem gequälten Lächeln. »Ich muß mich mal richtig ausschlafen, das ist alles.«
»Das müssen wir alle«, sagte Joanna. »Ich habe mich nicht mehr so schlecht gefühlt, seit wir diese Erkältung gehabt haben, als wir an Bord der Marsschiffe gegangen sind.«
»Du auch?« fragte Jamie.
»Vielleicht ist irgendwas mit den Luftfiltern hier drin nicht in Ordnung?« Joanna ließ die Vermutung wie eine Frage klingen. »Vielleicht filtern sie nicht genug Kohlendioxid aus der Luft?«
Jamie nickte, wodurch seine Kopfschmerzen noch schlimmer wurden. »Ich werd’s überprüfen.« Er machte sich auf den Weg zur Luke, dann drehte er sich noch einmal zu Ilona um. »Laß es ruhig angehen. Überanstrenge dich nicht.«
»Tja, irgendwas stimmt nicht, soviel steht fest«, sagte Connors, als Jamie wieder ins Cockpit kam. »Ich fühle mich, als hätte mir jemand während der letzten sechs Stunden die Scheiße aus den Knochen geprügelt.«
»Ich rufe lieber Tony an«, sagte Jamie. »Die Sache wird allmählich ernst.«
Aber als Jamie nach dem Funkschalter an der Kontrolltafel griff, packte Connors ihn am Handgelenk. »Warten Sie bis morgen früh«, sagte der Astronaut.
Jamie warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Gehen Sie nie zum Arzt, wenn es nicht unbedingt sein muß«, erklärte Connors. »Diese Pillendreher erzählen einem doch bloß, daß man wiederkommen soll, damit sie einen mit Nadeln pieksen können.«
»Aber irgendwas stimmt nicht, das haben Sie doch selbst gesagt.«
»Wir beide werden das CO2-System checken. Das könnte es sein. Dann nehmen wir ein ordentliches warmes Abendessen zu uns und schlafen uns richtig aus. Wenn wir uns morgen früh immer noch beschissen fühlen, können wir den Krankenwagen rufen.«
Jamie erklärte sich widerstrebend einverstanden.
Seiji Toshima hielt sich für das einzige von allen Mitgliedern des Forschungsteams, der sich wirklich mit dem gesamten Planeten Mars beschäftigte.
Schon möglich, daß Waterman und die anderen im Rover hellauf begeistert über ihre Exkursion zum Canyon waren. Patel und Naguib waren mit Leib und Seele bei der Erforschung der riesigen Vulkane. Die Astronauten und Kosmonauten warteten die Geräte in der Kuppel, während der englische Arzt sich um ihre Gesundheit kümmerte und die kleine Monique den Garten pflegte und Steine untersuchte.
Aber nur ich betrachte hier diese Welt in ihrer Gesamtheit.
Er drehte sich langsam auf seinem knarrenden Plastikstuhl und ließ den Blick über die Reihe seiner Monitore wandern. Auf ihnen war der gesamte Planet zu sehen. Drei Monitore zeigten den Mars im Ganzen, von Pol zu Pol, aus der Perspektive der drei Beobachtungssatelliten im synchronen Orbit. Die anderen zeigten Daten, die von den Satelliten, den frei herumfliegenden Ballons und den überall in den trostlosen, sandigen Gebieten des roten Planeten postierten Fernerkundungsbaken aufgezeichnet wurden: Luftdichte, Temperatur, Windgeschwindigkeit und Windrichtung, Feuchtigkeitsgehalt, sogar die chemische Zusammensetzung der Luft.
Es war dumm von mir, dachte Toshima, nicht zu erkennen, daß die Feuchtigkeit im Tithonium Chasma sogar im Hochsommer zur Nebelbildung ausreichen würde. Er betrachtete dieses Versäumnis als seinen ureigensten Fehler. Es war bekannt, daß der Boden des Canyons zwei bis drei Kilometer unterhalb der Ebenen um sie herum liegt. Ich wußte von den Sonden, daß die Luftdichte dort unten etwas höher ist als anderswo. Natürlich muß die Luft etwas wärmer sein und mehr Feuchtigkeit aufnehmen können. Ich hätte das voraussehen müssen. Ich hätte es vorhersagen müssen.
Er hielt sich jedoch nicht lange mit den Fehlern der Vergangenheit auf. Sein größter Monitor, der direkt vor dem Stuhl stand, auf dem er saß, zeigte sein Meisterstück: eine äußerst detaillierte Wetterkarte des gesamten Planeten. Toshima hatte sämtliche hereinkommenden Daten zusammengefaßt und die Hochs und Tiefs, die zyklonalen Störungen und Windströmungsmuster auf dem ganzen Mars eingezeichnet. Mit einem Tastendruck konnte er das Wetter so darstellen, wie es gestern oder vor zwei Wochen gewesen war, aber auch so, wie es seiner Vorhersage zufolge morgen sein würde — oder in zwei Wochen.
Die längerfristigeren Vorhersagen waren natürlich nicht so hieb- und stichfest wie die Vierundzwanzig-Stunden-Vorhersage. Selbst auf einer in meteorologischer Hinsicht so langweiligen Welt wie dem Mars, auf der keine Meere und nur wenig Feuchtigkeit die Wettermuster komplizierten, war es schwierig, Vorhersagen über einen Zeitraum von achtundvierzig Stunden hinaus zu treffen. Aber er lernte dazu, gewann an Weitblick und dehnte die Reichweite seiner Vorhersagen immer weiter aus.