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Er rieb sich die pochenden Schläfen, während er seine Wetterkarte eingehend betrachtete. Die wirbelnden Staubstürme in den nördlichen Breiten faszinierten ihn. In Gang gebracht von der Energie, die von der schmelzenden Polarkappe in die Atmosphäre entlassen wurde, erschienen und verschwanden sie wie Gespenster. Bisher noch unberechenbar. Toshima wußte, daß solche Stürme im Frühling miteinander verschmelzen, sich zu einem einzigen gigantischen Sturm vereinigen konnten, der wochenlang den gesamten Planeten verhüllte.

Er befürchtete nicht, daß diese kleinen Stürme das tun würden. Was ihm Sorgen bereitete, war die Kaltfront, die in südlicher Richtung über die weite Ebene von Chryse Planitia vordrang.

Für marsianische Wettersysteme enthielt diese Kaltfront beträchtliche Energie. Die mittäglichen Höchsttemperaturen südlich der Front lagen noch bei etwa fünfundzwanzig Grad Celsius. Auf der anderen Seite der Front lagen sie selbst zur Mittagszeit unter dem Gefrierpunkt. Die Front würde während der Nacht über das östliche Ende des Grand-Canyon-Komplexes hinwegziehen. Waterman und die anderen waren über tausend Kilometer westlich von dort, aber Toshima machte sich trotzdem Sorgen um sie.

Er verstand nicht, weshalb er sich Sorgen machte.

Dem Rover drohte keine Gefahr vom Wetter. Die vier Männer und Frauen waren auf nächtliche Tiefsttemperaturen von bis zu hundert Grad unter Null vorbereitet. Warum also sollte ein Temperaturabfall von dreißig Grad besorgniserregend sein?

Toshima merkte, wie ihn ein innerliches Zittern packte, fast wie ein sexueller Drang. Da war etwas in den Daten vor seinen Augen, etwas Wichtiges, was er nicht erkannte. Er wußte es. Er fühlte es innerlich. Sein Unterbewußtsein versuchte, ihm etwas zu sagen, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken — eine Enthüllung, eine wichtige Entdeckung. Er biß sich auf die Lippe und kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich mit aller Kraft. Vergeblich.

In seinem Kopf pulsierte ein dumpfer Schmerz. Er massierte sich erneut die Schläfen, dann den Nacken.

Als er die Augen wieder öffnete, holte er tief Luft und versuchte, die Anspannung zu lindern, die die Sehnen in seinem Nacken zusammenzog und seine Schultern verkrampfte. Er drehte sich langsam auf seinem knarrenden Stuhl und musterte die Bildschirme einen nach dem anderen. Die Information ist hier, vor meinen Augen. Das wußte er. Aber es gelang ihm nicht, mit seinem Verstand zu erfassen, was sein Inneres ihm zu sagen versuchte.

Entspann dich, sagte die längst vergessene Stimme des Mönchs, der in seiner Kindheit sein Lehrer gewesen war. Versuch nicht, deinen Geist zu zwingen, er wird allen Anstrengungen widerstehen und dir nur Schmerzen bereiten. Entspann dich und befrei dich von allen Wünschen, allen Bedürfnissen. Meditation ist der Schlüssel zum Verständnis, die Brücke zum großen kosmischen Ganzen.

Toshima schloß erneut die Augen, diesmal sanft, ohne Anspannung. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ das Kinn herabsinken. Wenn zufällig jemand vorbeigekommen wäre, hätte es für ihn so ausgesehen, als ob der japanische Meteorologe ein Nickerchen machte.

Er versuchte, seinen Geist zu reinigen, indem er ein Bild des göttlichen Fudschijama mit seinem wundervoll proportionierten, schneebedeckten Kegel vor einem klaren blauen Winterhimmel heraufbeschwor. Seine Gedanken wanderten langsam und träge von einem Bild aus der Vergangenheit zum nächsten. Er erinnerte sich an seinen ersten Aufenthalt in den USA, in Boston, und daran, wie kalt der vom eisigen Wasser im Hafen herüberwehende Winterwind auf dem Flughafen gewesen war. Wie schneidend der Wind sogar in der Stadt gewesen war, in dem Hotel, wo der Meteorologen-Weltkongreß stattfand.

Die Türme von Bostons Prudential Center erzeugten einen Windkanal, hatte man ihm erklärt. Alle Meteorologen staunten über das Phänomen dieses Mikroklimas. Selbst wenn woanders in der Stadt Windstille herrschte, pfiff der Wind im Prudential Center so heftig zwischen den Gebäuden hindurch, daß er in den dekorativen Teichen und Brunnen weiße Schaumkronen aufpeitschte.

Toshimas Augen öffneten sich abrupt. Ein Windkanal!

Er rollte mit seinem kleinen Stuhl zu der Tastatur vor seiner großen Karte und hämmerte wie wild auf sie ein. Die Kopfschmerzen waren vergessen. Wie wird sich ein hohes Druckgefälle auf den langen, schmalen Korridor der Valles Marineris auswirken? Wie wird die herannahende Kaltfront die Winde im Tithonium Chasma beeinflussen?

Er brauchte einen großen Teil der Nacht, aber schließlich hatte Toshima seine Antwort. Er überprüfte sie einmal und noch ein zweites Mal. Ja, das Ergebnis stand zuverlässig fest.

Wieder zitterte er, diesmal vor freudiger Erregung über den Sieg. Und weil er jetzt wußte, warum er Angst hatte. Er hatte eine große Entdeckung gemacht. Sie sagte ihm, daß Waterman und die anderen in ernster Gefahr schwebten.

Als das erste Licht der Morgendämmerung in die Kuppel sickerte, stand Toshima nervös und mit trüben Augen auf, um Wosnesenski zu wecken.

»Die Leute im Rover müssen gewarnt werden«, murmelte er vor sich hin. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

DER LANGE WINTER

Die blaue Welt hatte weitaus mehr Glück als ihr roter Gefährte. Da sie größer und näher an der Sonne war, behielt sie ihre tiefen Ozeane aus Wasser und ihren Schutzmantel aus Luft. Das Leben blühte und gedieh.

Allerdings nicht ohne Unterbrechung. Nicht ohne Katastrophen. Riesige Geschöpfe rissen die Herrschaft über die Meere, das Land und sogar die Luft an sich, nur um dann auszusterben und vollständig ausgelöscht zu werden. Manchmal fuhr die Hand des Todes so gründlich über die blaue Welt, daß sie fast alles Leben auf ihr hinwegfegte.

Aber das Leben rappelte sich immer wieder auf, bevölkerte die blaue Welt immer wieder mit neuen und anderen Geschöpfen.

Ausgehend von den Polen, breiteten sich gewaltige Eisflächen aus; riesige Gletscher kamen unaufhaltsam von den Bergen herab und überzogen das Land mit kilometerdicken Eisschichten. Ein so großer Teil des Meereswassers wurde in Eis verwandelt, daß der Meeresspiegel sank. Die blaue Welt wurde weiß und glitzerte unter der fahlen Sonne von Wintern, die hunderttausend Jahre und länger dauerten.

Die Kälte erreichte auch die rote Welt.

Die rote Welt hatte sich noch nicht ganz von dem großen Kataklysmus vor langer Zeit erholt. Doch ein ausgedehntes neues Meer war entstanden, schimmerndes Wasser, das fast den halben Planeten bedeckte. Ungeheure Vulkane reckten ihre mächtigen Gipfel den Sternen entgegen und übergossen das Land mit heißer Lava und dampfenden Gasen. Tief unter der Kruste der roten Welt gab es noch Energie, eine schmelzflüssige Energie, die die höchsten Berge aller Zeiten erschuf.

Wie immer, wenn Wasser und Energie vorhanden sind, war dies die Chance für die Geburt des Lebens. Wasser und Energie und Zeit: das ist alles, was das Leben braucht.

Aber dann begann die Kälte, ihr tödliches Werk zu verrichten. Das große, den halben Planeten umspannende Meer gefror und verschwand unter einer Decke aus Schutt und Staub. Die Vulkane versanken in Ruhe und Untätigkeit. Auf der roten Welt begann ein langer, langer Winter, der bis zum heutigen Tag andauert.

SOL 37

MORGEN

Jamie stand nackt unter der heißen Sonne des Mars. Schweiß lief ihm die Rippen und Beine hinunter, als die Götter sich um ihn versammelten. In seinen Lenden tobte der süße Schmerz der Sehnsucht. Voller Verlangen streckte er die leeren Hände aus.

Das Land war rot wie Blut, der Himmel von einem so strahlenden Blau, daß ihm die Augen wehtaten, wenn er nach oben schaute. Jenseits der sandigen Wüste kamen die Götter in ihren feurigen Wagen herab, einer nach dem anderen. Überall, wo sie aufsetzten, verwandelte sich das Marsgestein sofort in leuchtende Blüten. Bald war die ganze Wüste von einem bunten Teppich bedeckt, und sogar die zerklüfteten Klippen in der Ferne veränderten sich und gerannen zu Städten aus Adobe und Holz. Jamie sah Rauchfahnen aus ihren Schornsteinen aufsteigen.