Er fragte sich, wann der Sturm aufhören würde. Vielleicht sollte ich Toshima anrufen und ihn um eine Vorhersage bitten. Aber wozu, dachte er dann. Er hört auf, wenn er aufhört, ganz gleich, was der Meteorologe sagt. Jamie betastete den beruhigenden, glatten Stein des Bärenfetischs in seiner Tasche und sagte sich, daß es töricht war, die Dinge beschleunigen zu wollen. Besonders, wenn man keine Macht über sie hatte. Warte das Ende des Sturms ab. Warte das Ende aller Stürme ab.
Er war müde, todmüde, aber zu aufgekratzt, um in seine Koje zu steigen. Wie ein kleiner Junge an Heiligabend. So ungeheuer müde, daß er kaum die Augen offenhalten kann, aber zu aufgeregt, um schlafen zu gehen.
Connors und Ilona brauchen aber lange im Labor. Fängt sie wieder mit ihren alten Mätzchen an? Na ja, wenn Pete sich so schlecht fühlt, wie er aussieht, und trotzdem einen hochkriegt, dann spricht das um so mehr für ihn. Und Ilona — er hätte beinahe gelacht —, sie ist wie die gute alte Post: weder Regen noch Sturm noch die dunkle Nacht können sie aufhalten.
Er rieb sich das stoppelige Kinn. Vielleicht sollte ich mich rasieren. Wenn es uns gelingt, die Antenne zu reparieren, und wir morgen im Fernsehen sind, sollte ich mich zumindest um ein anständiges Äußeres bemühen. Andererseits sehe ich rasiert vielleicht schlimmer aus als mit einem Viertagebart. Vielleicht. Es wäre Li sicher nicht recht, wenn die Medien herausfänden, daß wir krank sind. Brumado muß erfahren, was mit seiner Tochter und uns übrigen los ist, aber die Medien dürfen auf keinen Fall Wind davon kriegen. Die würden durchdrehen. Marsfieber! Alles, was wir erreicht haben, wird Schnee von gestern sein, sobald sie argwöhnen, daß einer von uns auch nur einen leichten Schnupfen hat.
Ihm kam zu Bewußtsein, daß es Menschen auf der Erde gab, die Angst vor jedwedem Leben auf dem Mars haben würden. Die Vorstellung von Leben auf anderen Welten zerstörte ihren tröstlichen Eigendünkel, attackierte ihre religiösen Überzeugungen, zertrümmerte ihr Bild vom Universum. Oder noch schlimmer. Die UFO-Spinner werden ausflippen! Sie werden zuallermindest mit einer marsianischen Invasion rechnen. Der Gedanke erschreckte Jamie. Stimmte ihn über alle Maßen traurig.
Zerstreut und innerlich aufgewühlt beugte Jamie sich über die Kontrolltafel und schaltete die Scheinwerfer des Rovers ein. Als er wieder durch den Thermovorhang spähte, sah er ein weiches, diffuses graues Licht, das nichts enthüllte, nur ein konturloses Schimmern, wie einen dicken, wogenden Nebel. Der Marswind sang sein endloses Lied, obwohl Jamie den Eindruck hatte, daß es nun ein bißchen tiefer klang als zuvor. Er fragte sich, ob das gut oder schlecht war.
Sie werden uns morgen zurückholen, soviel steht fest. Ohne daß wir auch nur in die Nähe des Felsendorfes gekommen wären. Sie werden sagen, wir seien zu krank, um weiterzufahren, und uns den Befehl geben, zur Kuppel zurückzukehren.
Jamie wußte, daß es richtig war. Vier Menschenleben hingen davon ab. Doch als er in die perlmuttgrauen Wolken hinausschaute, die an der Kanzel des Rovers vorbeiwehten, fragte er sich, ob er sie irgendwie dazu bewegen konnte, sie weiterfahren zu lassen, statt ihnen den Befehl zum Rückzug zu geben.
Ich könnte zu Fuß gehen, dachte er. Ich könnte von hier aus dorthin gehen und das Dorf sehen, könnte die Felswand hinaufklettern und meine Hände darauflegen. Ich könnte es tun.
Und dann sterben. Es gäbe keinen Rückweg mehr für mich; der Anzug kann seinen Träger nicht so lange am Leben erhalten. Aber ich käme wenigstens hin und sähe es mit eigenen Augen. Es wäre kein schlechter Ort zum Sterben. Vielleicht ist das der Sinn meines Traums.
Tony Reed fand ebenfalls keinen Schlaf.
Als das Licht automatisch für die Nacht gedämpft worden war, hatte er sich natürlich wie die sieben anderen, die in der Kuppel wohnten, in seine Kabine zurückgezogen. Wosnesenski bestand darauf, daß sie sich genau an den Missionsplan hielten, sofern kein dringender Notfall vorlag. Mikhail Andrejewitsch wurde immer pedantischer, seit die Krankheit von ihm Besitz ergriffen hatte; obendrein war er griesgrämig und grüblerisch.
Sobald Reed das tiefe Schnarchen des Russen hörte — es klang wie ein Trecker, der auf dem Acker hin und her rumpelte —, stand er von seiner Liege auf und schlich in seinen dicken Pantoffelsocken auf Zehenspitzen ins Krankenrevier zurück. Im Dunkeln wirkte die Kuppel kälter auf ihn. Er wagte es nicht, die Deckenlampe einzuschalten, als er an den stillen Arbeitsplätzen vorbeitappte. Im Krankenrevier schob er die Tür hinter sich zu, tastete sich um seinen Schreibtisch herum zu seinem Stuhl und streckte die Hand zum Computer auf dem Tisch aus, während er sich hinsetzte. Er suchte den Netzschalter mit den Fingern, fand ihn und schaltete den Computer ein. Der kleine Bildschirm leuchtete orange auf wie ein munteres Feuer.
Sie sterben, dachte Reed. Sie sterben alle, und sie erwarten von mir, daß ich sie rette. Und ich weiß nicht, was ich tun soll! Er ließ die Daten der letzten medizinischen Tests durchlaufen. Nichts Neues. Nichts, was ihm auch nur den leisesten Hinweis darauf lieferte, was sie infiziert haben mochte.
Tony starrte kopfschüttelnd auf den Bildschirm. Er selbst fühlte sich gut; er war ein bißchen müde, seine Augen brannten von der Überanstrengung, aber ansonsten ging es ihm bestens. Keins der Symptome, die die anderen zeigten. Wie kann das sein, fragte er sich. Wir essen alle das gleiche, atmen dieselbe Luft. Aber die anderen sind allesamt krank, im Rover und hier in der Kuppel. Bloß ich nicht.
Reed lehnte sich zurück, schloß die Augen halb und legte die Spitzen der langen Finger auf der Brust aneinander. Denk nach, Mann, fauchte er sich an. Benutz das Gehirn da oben in deinem Schädel und denk nach.
These eins: Sowohl das Team im Rover als auch die Mannschaft hier in der Kuppel haben es bekommen, was auch immer es ist. Deshalb kann es keine Infektion durch die Lebensformen sein, die das Roverteam gefunden hat.
Ja, korrekt. Aber kann es ein infektiöser Organismus in der Luft sein? Theoretisch ist es eigentlich unmöglich, daß marsianische Parasiten Besucher von einem anderen Planeten befallen, aber vielleicht gibt ein hoch anpassungsfähiges Virus in der Luft? Wir wissen jetzt, daß es auf dem Mars Leben gibt. Was, wenn irgendwelche Organismen in der Luft schweben?
Reed schüttelte den Kopf und versuchte, den Gedanken zu verwerfen. Wir haben Proben von der Luft genommen. Monique hat sie mit jedem Gerät getestet, über das sie verfügt. Wosnesenski hat die Luftreiniger überprüft. Sie haben nichts gefunden. Und wir haben hier drin normale erdähnliche Luft, keine marsianische. Jeder marsianische Organismus würde von dem hohen Sauerstoffanteil getötet werden.
Und dennoch — wir haben kein Elektronenmikroskop. Es wäre durchaus möglich, daß ein Virus bei Moniques Tests durchgerutscht ist, besonders weil wir nicht genau wissen, wonach wir suchen. Vielleicht mögen sie Sauerstoff. Und wir sind nicht konsequent; wir achten sehr genau darauf, daß wir die Luft- und Bodenproben vom Mars nicht mit unseren Bakterien infizieren, nicht wahr? Wenn die hohen Tiere ihrer eigenen Theorie wirklich vertrauen würden, warum sollten sie sich dann Sorgen machen, daß wir den Mars möglicherweise infizieren könnten?
Es ergibt einfach keinen Sinn, sagte sich Reed. Wenn uns ein einheimischer marsianischer Organismus infiziert hat, warum bin ich dann nicht betroffen? Warum bin ich gesund, während alle anderen sterben?
Zum ersten Mal, solange er sich erinnern konnte, fühlte Tony Reed sich schuldig. Und er kam sich unzulänglich vor.