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Außerdem hatte er schreckliche Angst. Aber das war ein Gefühl, das er schon sein Leben lang kannte.

* * *

Dr. Yang Meilin schlief, aber nicht gut. Sie hatte einen Traum, der ihr zu schaffen machte. Einen Alptraum. Sie war wieder Medizinalassistentin in ihrer Heimatstadt Wuxi. Die große Hungersnot hatte die ganze Provinz erfaßt. In den Straßen lagen so viele Leichen, daß die Menschen parfümierte Gazemasken trugen, um sich vor dem Gestank verwesenden Fleisches zu schützen.

Dr. Yang war im Krankenhaus, auf einer Station voller schreiender Babies. Ausgemergelte Gliedmaßen und aufgequollene Bäuche. Die Babies wurden mit den vom Internationalen Roten Kreuz geschickten Nahrungsmitteln gefüttert, aber sie starben trotzdem.

Sie schlief mit dem gutaussehenden Arzt aus Beijing, aber sie konnte sich ihm nicht total hingeben, weil sie das qualvolle Schreien der Babies durch die dünnen Vorhänge hörte, die sie um das Bett gezogen hatten. Der Arzt würde am nächsten Morgen nach Beijing zurückkehren, ohne ihr auch nur auf Wiedersehen zu sagen. Und die Babies hörten nicht auf, zu wimmern und zu schreien. Und zu sterben.

Dr. Yang wußte, daß sie nicht an Unterernährung starben. Und noch während sie sich das sagte, veränderte sich ihr Traum, verwandelte sich und mutierte: Die Babies waren Astronauten, die Krankenstation war die Kuppel auf der roten Oberfläche des Mars.

Sie fühlte sich total hilflos. Warum sterben sie? Es ist meine Aufgabe, sie zu retten, ihnen zu helfen, sie am Leben zu erhalten und wieder gesund zu machen. Es ist meine Aufgabe, mich zu erinnern. Erinnere dich.

Sie war sofort wach und setzte sich auf ihrer Liege kerzengerade auf.

Aber sie konnte sich nicht erinnern, was der Traum ihr zu sagen versucht hatte.

ERDE

WASHINGTON: Edith schaute aus dem Fenster ihres Hotelzimmers und hielt den Telefonhörer fest ans Ohr gepreßt.

»Sie sind gefeuert, Edie«, sagte Howard Francis’ zornige, schnarrende Stimme.

Das erste, was ihr durch den Kopf ging, war: Da geht mein Spesenkonto dahin.

»Aber warum ich?« fragte Edith. »Ich habe versucht, Sie anzurufen …«

»Sie hatten die verdammte Story anderthalb Stunden vor allen anderen, und sie sind einfach drauf sitzengeblieben!« kreischte Francis’ Stimme. »Wir hätten vor allen anderen Networks damit rauskommen können, sogar vor CNN, wenn Sie Ihren Job ordentlich gemacht hätten!«

»Ich habe mich bemüht, jemanden an den Apparat zu kriegen. Ich habe versucht, zum Chef vom Dienst durchzukommen, aber irgend so ein beschissenes kleines Flittchen wollte mir seine Nummer nicht geben.«

»Das war seine Stellvertreterin, Herrgott noch mal! Sie hätten’s ihr erzählen sollen!«

»Die hätte mich eiskalt abserviert.«

»Na und? Das Network hätte die größte Story aller Zeiten zuerst gebracht!«

Scheiß auf das Network, dachte Edith. Laut sagte sie: »Ich habe versucht, ihr zu erklären, wie wichtig es war. Sie wollte es mir einfach nicht glauben. Ich wette, selbst wenn ich ihr erzählt hätte, worum es ging, hätte sie mich bloß für eine arme Irre gehalten.«

»Mein Gott, Edie, ich sitze selber ganz schön in der Patsche. Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht auch noch feuern!«

»Ja, das wäre wirklich sehr schade«, sagte Edith. Ihre Stimme war schrill vor Wut. Ich hoffe, sie feuern euch Arschlöcher allesamt, fügte sie im stillen hinzu, während sie auflegte.

Als Alberto Brumado sie später an diesem Morgen auf dem Weg zum NASA-Hauptquartier abholte, erzählte Edith ihm ihre schlechten Neuigkeiten.

»Nun ja«, sagte er und ließ den Blick durch das auf dezente Weise prunkvolle Hotelfoyer schweifen, »ich denke, du könntest zu mir ziehen.«

Edith spürte, wie ihre Augenbrauen in die Höhe gingen.

Brumado setzte sein jungenhaftes Lächeln auf. »In der obersten Etage des Hauses gibt es eine Gästesuite. Da kannst du ganz für dich sein. Mehr wollte ich damit nicht sagen.«

Edith erwiderte sein Lächeln. »Ich weiß es zu schätzen, Alberto. Ich muß natürlich irgendwo unterkommen — bis ich wieder einen Job finde.«

»Vielleicht kann ich dir auch dabei helfen. Ich habe viele Bekannte unter den Presseleuten.«

Edith fragte sich erstaunt, wie clever Brumado wirklich war; sie hatte sehr wohl verstanden, daß die Presseleute, von denen er sprach, für ihn nur Bekannte waren und keine Freunde.

SOL 38

MORGEN

Jamie erwachte weit vor der Morgendämmerung. Der Wind hatte aufgehört! Flach auf seiner Liege ruhend lauschte er. Der Sturm mußte vorbei sein. Von dem Wind war nichts zu hören, und die einzigen Geräusche in dem abgedunkelten Rover waren Connors’ unruhiges Schnarchen und das leise Rascheln von Joanna, die sich auf ihrer Liege direkt über ihm umdrehte. Und das stetige Summen der Stromversorgung und der Lüfter im Hintergrund.

Langsam und leise schlüpfte er aus der Koje und tappte in Socken und Overall zum Cockpit. Er zog den Thermovorhang beiseite. Stille, schwarze Nacht draußen. Auf dem Mars gab es kein wahrnehmbares Mondlicht; seine beiden Satelliten waren zu klein, um viel Licht auf die Oberfläche des Planeten zu werfen. Jamie schaltete die Scheinwerfer des Rovers ein. Die Luft war klar. Er konnte die Felswand draußen sehen; grau und zerklüftet stand sie da, wie der Geist eines uralten Großvaters.

Er schaltete die Scheinwerfer rasch wieder aus, schloß den Vorhang und schlüpfte in seine Koje zurück, froh darüber, daß der Sturm tatsächlich aufgehört hatte. Er kroch unter die dünne Decke und schlief bald wieder ein.

Er träumte von Joanna. Sie gingen zu zweit in normaler Straßenkleidung durch die Wüste. Er konnte nicht sagen, ob die Wüste auf der Erde oder auf dem Mars war. Eine Stadt leuchtete weiß am Horizont und funkelte in der heißen Sonne. Aber so lange sie auch gingen, die Stadt kam nicht näher. Sie stapften stundenlang dahin, müde, durstig, verschwitzt, aber die schimmernden Türme waren immer noch nicht mehr als eine Hoffnung in der Ferne. Die Kräfte verließen sie. Joanna brach in seinen Armen zusammen; auf einmal war sie nackt. Sie sanken beide sterbend in den brennenden Sand, zu schwach, um noch weiterzugehen.

Jamie hatte seinen Fetisch in der Hand, aber der kleine steinerne Bär war in der fürchterlichen Hitze geschmolzen und rann ihm zwischen den Fingern hindurch.

Er griff danach, wühlte im Sand, um ihn zurückzuholen; dann wachte er auf und merkte, daß er die Hand in das Laken krallte, das sich zwischen seinen Beinen verheddert hatte.

Verlegen stand Jamie auf und ging zum Waschraum, bevor einer der anderen aufwachte. Zum ersten Mal, seit sie die Kuppel verlassen hatten, rasierte er sich. Das Rasiermesser schien ihm in die Haut zu schneiden, aber es kam kein Blut. In mir ist kein Blut mehr drin, dachte Jamie müde. Das Rasierwasser brannte, als er es sich ins Gesicht klatschte, aber der scharfe Schmerz war beinahe angenehm, weil ihn nun schon seit Tagen ein dumpfes Unwohlsein quälte, das ihn verdrossen und reizbar machte.

»Danke«, sagte Jamie leise zu seinem frisch rasierten Konterfei im Metallspiegel des Waschraums. »Das hab ich gebraucht.« Das Gesicht, das ihn ansah, war ausgemergelt, mit roten Augen und tiefen Mulden unter den hohen Wangenknochen. Du verwandelst dich in ein Bleichgesicht, sagte Jamie zu ihm.

Joanna schien ebenfalls noch erschöpfter zu sein als zuvor, und Ilona schaffte es kaum, sich von ihrer Liege zu erheben und in den Waschraum zu gehen. Nach einem Frühstück in gedrückter Atmosphäre begleitete Jamie Connors trotz der milden Proteste des Astronauten nach draußen.

»Es wird keine Pressekonferenz geben, solange die Antenne nicht repariert ist«, erklärte Jamie. »Es gibt also keinen Grund, weshalb ich drinbleiben sollte.«