»Auf geht’s«, rief er über die Schulter hinweg. Ilona lächelte ihm matt zu. Joanna saß mit einem Plastikbecher in der Hand neben Connors. Sie verwandelt sich in Florence Nightingale, dachte Jamie. Wird Pete wieder gesund werden? Wird Ilona durchkommen? Herrgott, sie könnten beide sterben. Wir könnten alle sterben.
Der Rover machte einen Satz nach vorn, brach ein wenig nach links aus und fuhr dann wieder geradeaus, als Jamie vom Gas ging und das Lenkrad festhielt.
»Wir fahren!« brüllte er. »Wir sind unterwegs.«
Von den dreien hinter ihm kam kein Ton.
Dann dachte Jamie: Wir fahren in die falsche Richtung. Zum Felsendorf geht es dort entlang; wir lassen es hinter uns zurück.
Trotz seiner Schmerzen und der fürchterlichen Schwäche, die ihm alle Kraft aus dem Körper saugte, legte Mikhail Wosnesenski verbissen den Raumanzug an. Abell und Mironow halfen ihm, aber sie sahen beide nicht besser aus, als Wosnesenski sich fühlte.
Es ist der Staub, sagte sich der Russe. Er muß es sein. Nach außen hin hatte er die Idee einer unheimlichen marsianischen Infektion als so grotesk abgetan, daß es sich nicht einmal lohnte, darüber nachzudenken. Aber im tiefsten Innern fürchtete er, daß sie alle von einem fremdartigen Bazillus vergiftet worden waren, für den es keine Heilung gab.
Obwohl Dr. Li gesagt hatte, er müsse nicht draußen sein, wenn der Lander komme, hatte Wosnesenski die Vorschriften zitiert, bis der Expeditionskommandant sich widerstrebend gefügt und eingewilligt hatte.
Ich bin vielleicht krank, sagte sich Wosnesenski, aber ich kenne immer noch meine Pflichten. Die Vorschriften verlangen, daß ein Kosmonaut den Anzug trägt und bereit ist, dem Landungstrupp zu helfen, sobald der Lander aufsetzt. Es gibt einen triftigen Grund für diese Vorschrift, und solange ich auf meinen eigenen zwei Beinen stehen kann, werde ich nicht zulassen, daß eine Vorschrift verletzt wird.
Deshalb taumelte er kraftlos durch die Luftschleuse hinaus und stand wartend da, eine feuerwehrrote Gestalt, die unerschütterlich auf dem rostroten Boden des Mars stand. Genau zum vorausberechneten Zeitpunkt schoß das L/AV über den rosafarbenen Himmel und entfaltete seine Fallschirme. Sie blähten sich zu perfekten weißen Halbkugeln auf, unter denen der Lander wie eine Tasse samt Untertasse baumelte. Genau in dem Augenblick, als die Fallschirme abgeworfen wurden, zündeten die Bremsraketen. Der Lander setzte mit dem Kosmonauten Dimitri Jossifowitsch Iwschenko an den Kontrollen und dem Astronauten Oliver Zieman neben ihm rund zweihundert Meter entfernt auf dem Sand auf.
Der Lander hatte nur einen Passagier: Dr. Yang Meilin. Und seine Fracht bestand aus Arzneimitteln, die in hartschalige Plastikkisten verpackt waren.
Keine halbe Stunde später war die kleine Dr. Yang bereits mitten in einer Besprechung mit Tony Reed im Krankenrevier der Kuppel.
Schwer zu sagen, was hinter diesen schrägen Augen vorgeht, sagte sich Reed, während er ihr die Testergebnisse des Bodenteams zeigte.
»Das Team im Rover scheint am übelsten dran zu sein«, sagte er. »Obwohl es den meisten Leuten hier in der Kuppel weiß Gott schon schlecht genug geht.«
»Wie konnten Sie das zulassen?« fragte Dr. Yang. Ihre Stimme war seidig und leise. Aber die Frage bestürzte Reed trotzdem.
»Zulassen?« Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren schrill und abwehrend. »Wie kann man gegen eine Krankheit kämpfen, solange man nicht über eine klare Diagnose verfügt?«
»Sie haben keine Ahnung, woran Ihre Kameraden erkrankt sind?«
»Nein«, fauchte er. »Sie?«
Ihr Gesicht war eine völlig undurchdringliche Maske. »Das kann ich erst sagen, wenn ich ein paar Tests durchgeführt habe.«
Reed strich seine störrische sandfarbene Stirnlocke zurück. »Dann schlage ich vor, daß wir mit Ihren Tests anfangen.«
»Ja. Mir fällt auf, daß Sie von dieser Krankheit nicht betroffen zu sein scheinen. Deshalb werde ich Sie als Kontrollperson benutzen, wenn Sie keine Einwände haben.«
»Absolut keine.«
»Gut«, sagte Dr. Yang. Dann setzte sie nüchtern hinzu: »Krempeln Sie bitte Ihren Ärmel hoch.«
Reed entblößte gehorsam den linken Arm und dachte: Du kommst hier ganz frisch herunter, kühl und sachlich, und bist sicher, daß du entdecken wirst, was ich übersehen habe. Vielleicht schaffst du’s auch. Vielleicht hast du mehr Glück oder bist klüger als ich. Es ist meine Schuld. Ich habe etwas übersehen. Ich habe etwas falsch gemacht. Oder etwas unterlassen, was ich hätte tun sollen. Und sie weiß es. Sie wissen es alle. Sie geben alle mir die Schuld.
Als Dr. Yang die Nadel in seine Vene gleiten ließ, beharrte Tony stumm: Aber es liegt nicht an mir. Es liegt an dieser verfluchten fremden Welt, auf der wir sind. Wir haben hier nichts zu suchen. Wir haben den Boden unter den Füßen verloren. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren. Ich hätte niemals zum Mars kommen sollen. Keiner von uns hätte hierherkommen sollen. Der Mars hat mich besiegt. Der Mars hat uns alle besiegt.
Jamie hatte den Eindruck, daß sich seine Sicht trübte, aber dann merkte er an dem stechenden Schmerz, daß ihm Schweiß in die Augen lief. Er zwinkerte und rieb sich die Augen mit einer Hand, während er mit der anderen weiterhin das Lenkrad festhielt. Der Rover rumpelte mit stetigen dreißig Stundenkilometern dahin und steuerte auf den Erdrutsch zu, auf dem sie vor zwei Tagen heruntergefahren waren.
Vielleicht schaffen wir es noch vor Sonnenuntergang, dachte Jamie. Wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder auf die Ebene hinaufkommen, können wir die Nacht durchfahren. Natürlich lasse ich es dann langsamer angehen, aber die Scheinwerfer sind so gut, daß wir weiterfahren können. Nicht nötig, daß wir für die Nacht anhalten. Wir können unseren eigenen Spuren folgen, die wir auf dem Herweg hinterlassen haben. Falls sie nicht vom Staub verschluckt worden sind. Falls wir bis ganz nach oben kommen.
Connors glitt auf den rechten Sitz. Jamie warf ihm einen Blick zu. Der Astronaut sah erschöpft aus. Er saß da, als ob seine Knochen ihn nicht aufrecht halten könnten. Sein Kopf war auf die Brust gesunken.
»Wie läuft’s?« Connors’ Stimme war heiser.
»Gut bis jetzt.«
»Wie weit noch bis zum Erdrutsch?«
Jamie reckte das Kinn zu der Karte auf dem zentralen Bildschirm der Kontrolltafel. »Eine halbe Stunde, vielleicht ein bißchen mehr.«
»Dann haben wir eine Chance, bei Tageslicht nach oben zu kommen.«
»Ja.«
»Gut.«
»Wie geht’s den Frauen?« fragte Jamie.
»Ilona schläft. Joanna ist bei ihr. Sie sieht selber aber auch nicht allzu gut aus.«
»Sie schläft? Oder ist sie bewußtlos?«
Connors versuchte, die Achseln zu zucken. »Schwer zu sagen.«
»Und was ist mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?«
»Wie ein Stück Scheiße, über das eine Elefantenherde weggetrampelt ist. Und Sie?«
»Nicht viel besser. Aber dieses Vehikel ist leicht zu fahren. Es ist beinahe entspannend.«
»Schlafen Sie bloß nicht ein am Steuer.«
»Gibt ja nicht so viel Verkehr, auf den man aufpassen müßte.«
»Ja, aber einige von den Schlaglöchern auf der Straße können uns glatt verschlucken.«
Trotz Connors’ schlimmer äußerer Erscheinung fühlte sich Jamie besser, als der Astronaut neben ihm saß. Er trat ein bißchen fester aufs Gaspedal und sah zu, wie der Tachometer auf fünfunddreißig kletterte. Er hörte immer wieder Lis Stimme, die ihm sagte: »Es ist sehr wichtig, daß ihr die Kuppel bald erreicht und behandelt werden könnt. Beeilt euch.«
Der Boden schien anzusteigen. Zuerst fiel es Jamie nicht auf, aber dann merkte er, daß ihre Fahrt holpriger wurde.
»Ich glaube, wir sind fast … He! Da ist er!«